Am Wasser – von Libellen und Seerosen
Die Natur bot den Künstlerinnen und Künstlern des Jugendstils reiche Inspiration. Ende des 19. Jahrhunderts wurden Motive aus Flora und Fauna in beinahe allen Bereichen der dekorativen Kunst schier endlos variiert. Besonders beliebt waren Pflanzen und Tiere im und um das Wasser herum wie Libellen und Seerosen.
Inspiration aus Japan
Eine große Bedeutung kam im Jugendstil der Darstellung von Insekten und Kleintieren zu, die bisher von der europäischen Kunst eher vernachlässigt worden waren. Der aufkommende Japonismus spielte dabei eine nicht unwesentliche Rolle, denn die Vorliebe für Libellen oder Schmetterlinge teilte der Jugendstil mit der ostasiatischen Kunst. Auch der genaue Blick für Kleintiere hatte hier eine seiner Ursachen. Japanisches Kunsthandwerk, farbige Holzschnitte und Tuschezeichnungen gelangten in größerem Umfang – etwa über die Weltausstellungen – nach Europa, waren um 1900 weit verbreitet und wurden im Zuge des Japonismus rezipiert.
Begeisterung für Naturwissenschaften
Zusätzliche Anregungen kamen aus der Naturwissenschaft. Die „Kunstformen der Natur“, ein grandioses Illustrationswerk des Naturforschers und Künstlers Ernst Haeckel, lieferte detaillierte Skizzen von Tieren und Pflanzen aller Art. Seine Natur und Ästhetik verschmelzende Bildrhetorik hat Maßstäbe gesetzt und bot Künstlerinnen und Künstlern vielfältige Anregungen. Der Franzose Maurice Pillard Verneuil, Künstler und Pädagoge, bot mit seinem 1897 veröffentlichten Buch „L’animal dans la décoration“ ebenfalls motivische Vorbilder. In den Illustrationen wurden Tiere und Pflanzen ornamental verändert und in neue Motive integriert.
Rund um das Wasser
Viele Darstellungen im Jugendstil sind der Fauna und Flora im und um das Wasser herum gewidmet. In den Motiven werden zwei Themen behandelt: Die Unterwasserwelt mit der Darstellung von Fischen, Algen, Krebsen und Quallen sowie die Tier- und Pflanzenwelt rund um die Teiche mit Libellen und Fröschen sowie Seerosen und Wasserlilien.
Die Libelle entwickelte sich geradezu zu einem ikonischen Thema des Jugendstils. Auch hierbei gibt es Vorbilder in der japanischen Kunst, wo das Tierchen als Symbol für Glück, Auferstehung und Verwandlung gilt. Ihre zarten Flügel und die bewegenden Formen spielten vor allem in der Edo-Zeit (1603 – 1868) eine wichtige Rolle in der Kunst des Landes. Angefangen von der Druckgrafik bis hin zum Kunstgewerbe sind Libellen Teil eines dekorativen Bestiariums.
Faszination Libelle
Libellendarstellungen eigneten sich ideal, um Szenen einen Hauch von Poesie und Anmut zu verleihen. Sie erschienen oft in Bebilderungen des täglichen Lebens, wie Spaziergängen am Meer, in Gärten oder Parks. In Europa faszinierte die Libelle durch ihre gegensätzliche Erscheinung. Ihr fast zerbrechlich wirkender, schlanker Körper mit den zarten Flügeln steht in deutlichem Kontrast zu der räuberischen Jagdpraxis des Insekts. Mit ihrem langen, biegsamen Körper in schillernden Farben und den vier durchsichtigen Flügeln inspirierte das Tier um 1900 in Europa zu Gedichten und musikalischen Kompositionen. Rainer Maria Rilke dichtete einst „die schillernde, schnelle Libelle schwirrt hin über die Fläche, die blanke, da – rauschend im ragenden Röhricht – irrt ein nie gedachter Gedanke“ (aus: Mittag, 1896).
Dargestellt wurden Libellen auf Glasobjekten, auf Porzellan, als Marketerie oder als feine Schnitzarbeit in der Möbelkunst. Für den Schmuckgestalter René Lalique verkörperte die Libelle die Frauen. Er entlehnte ihr Finesse, Anmut und Leichtigkeit. Für die Göttlichste unter seinen Zeitgenossen – die Schauspielerin Sarah Bernhardt – gestaltete er das Insekt als atemberaubende Brosche. Der nackte Frauentorso verwandelte sich dabei in eine Libelle, deren Körper von Flügeln umgeben ist.
Nicht nur Émile Gallé, Universalkünstler des französischen Art Nouveau, sondern auch die von Gallé stark beeinflussten Brüder Daum setzten Materialien und Techniken gekonnt ein, um der Welt des Wassers Form zu verleihen. Sie liebten in ihren Glasschöpfungen das Spiel mit Spiegelungen und den Kontrast zwischen transparenten und mattierten Flächen sowie Bläschen und Einschlüssen in der Masse. Libellen, als Botschafterinnen der Welt des Wassers, bevölkern häufig die dargestellten Szenen.
Beispiele aus der Sonderausstellung „Streifzüge durch die Natur“
Zwei Beispiele aus der Sonderausstellung „Streifzüge durch die Natur – Gläserne Kostbarkeiten aus dem Jugendstil“ in den Reiss-Engelhorn-Museen zeigen ästhetisch und motivisch reizvolle Szenen am Teich. Den Anfang macht die um 1904 entstandene Vase „Libellules et Renoncules“ der Glasmanufaktur Daum Frères/Nancy. Sie kann als Erinnerung an Träumereien auf den am Wasser entlangführenden Pfaden aufgefasst werden. Auf farblosem Glas illustriert mehrfarbiges ein- und aufgeschmolzenes Pulver das Uferreich. Der umlaufend geätzte Dekor zeigt Blüten, Knospen und Blätter der Seerose. Bauch und Hals der Vase tragen zwei plastisch aufgelegte Libellen im Flug über das Gewässer, deren Surren man fast zu hören glaubt.
Die flache Schale aus mattiertem Glas von Émile Gallé wiederholt das Motiv eines Seerosenteichs. Die Pflanzen wurden aus der obersten Schicht der verschiedenfarbigen Überfänge ausgeätzt. Die Schale ist ein typisches Beispiel für die Glaskunst des Jugendstils, in der die Künstler immer auch versuchten, Naturstimmungen einzufangen und wiederzugeben. Der orange-bläuliche Schimmer des Glases erinnert an einen Teich im Dämmerlicht.
Bei der Betrachtung der beiden Glasgefäße fallen vor allem unscheinbare Details auf, wie etwa kleine Blätter und Halme. In der Nahsicht auf die Natur fällt es leicht, in die lyrische Traumwelt des Jugendstils einzutauchen.
Neugierig geworden?
Gläserne Kostbarkeiten aus dem Jugenstil können Sie noch bis 30. Juni 2024 in der Sonderausstellung Streifzüge durch die Natur bewundern.
Glas ist ein überaus facettenreiches Material. Erfahren Sie in unserer Blog-Reihe mehr über die Verwendung von Glas in verschiedenen Epochen.