Die Expedition eines Zehnjährigen – der junge Wilhelm Reiß

Stets zog es den Mannheimer Wilhelm Reiß auf Expeditionen in die Welt hinaus. Er erkundete Griechenland, die Azoren und Madeira, verbrachte viele Jahre in Südamerika und erklomm im Jahr 1872 als erster das 5900 Meter hohe Vulkanmassiv Cotopaxi in Ecuador. Doch musste auch ein internationaler Forschungsreisender einmal klein beginnen.

Der Mannheimer Vulkanologe Wilhelm Reiß (1838-1908), Bruder von Carl und Anna Reiß, gilt spätestens seit der Ausstellung „Abenteuer Anden und Amazonas. Wilhelm Reiß‘ Südamerika-Expedition in historischen Fotografien“ (2018/2019) als Abenteurer, Forscher und Expediteur, den es in die Ferne zieht. Von seinen Expeditionen berichtet er als Kind seiner Zeit lebhaft in Reisetagebüchern, er schreibt von mühseligen Ritten in glühender Sonne, von Nächten in Hängematten und unseligen Mücken. Doch es muss nicht unbedingt Südamerika sein – ein Reisetagebuch aus den Archivbeständen der rem zeugt von einer Expedition ganz in der Nähe. Mit gerade einmal zehn Jahren erkundete der junge Reiß 1848 Taunus und Spessart und beschrieb seine Reise sehr ausführlich in Wort und Bild.

Auf Bildungsreise mit Fresenius

Am 16. Juli fuhr Reiß, begleitet von Großmutter, Tante und Bruder Carl mit der Bahn zum Bender’schen Knabeninstitut in Weinheim, einer Eliteschule bzw. Erziehungsanstalt des gehobenen Bürgertums. Von dort sollte am nächsten Tag die Bildungsreise in die Region starten – mit ausgewählten Jungen aus Antwerpen, Basel, Mailand bis Mannheim und mit den beiden Lehrern Herr Gilbert und Herr Fresenius – der im selben Jahr das Chemische Laboratorium Fresenius gründete, welches bis heute weiterentwickelt wird und uns insbesondere durch das Institut-Fresenius-Qualitätssiegel im Alltag gegenwärtig ist. Die Ziele des Schulausflugs waren ehrgeizig: Die Rundreise sollte teils wandernd, teils per Fuhrwerk unter anderem zu den Städten Fürth, Erbach, Aschaffenburg, Königsstein, Frankfurt und Darmstadt führen.

Zwischen Bildung und Badestelle

Die detaillierten Beschreibungen des jungen Reiß ermöglichen es, ihn imaginär auf seiner Reise zu begleiten. Der zweite Tag der Unternehmung startete wie gewöhnlich sehr früh. Um fünf Uhr wurden die Jungen im Wirtshaus von ihren beiden Lehrern geweckt, um sich im Innenhof zu waschen und anschließend ihre Wanderung in Richtung Michelstadt zu beginnen. Dabei fragten sie regelmäßig nach dem Weg – an anderen Tagen verlief man sich auch gerne einmal – und pausierten gelegentlich im Schatten der Bäume.

Schließlich erreichten sie (den heutigen Ortsteil) Eulbach und besichtigten dort unter anderem den bereits von Friedrich Schiller hochgelobten Englischen Garten, angelegt vom Grafen Franz von Erbach-Erbach, wie die Jungen von Herrn Bender lernten. Für erwähnenswert hält Reiß insbesondere eine Pyramide aus römischen Steinen und einen kleinen Burgturm im Garten. Im Anschluss wurden die Schüler wie üblich dazu angehalten Objekte, Gebäude bzw. Landschaften in der Umgebung zu zeichnen – einige Zeichnungen von Reiß von Burgen bis hin zu Wappen und Schwertern sind auch im Reisetagebuch eingebunden. Nach diesem sportlichen Vormittagsprogramm wurde der Gruppe im örtlichen Wirtshaus ein Mittagessen serviert und die Möglichkeit für einen Mittagsschlaf im Heu gegeben.

Gestärkt zogen sie am Nachmittag weiter und erkundeten wandernd die Gegend und ihre Kirchen, pausierten in einem Wirtshaus, um etwas Brot zu essen und fuhren anschließend mit einem Leiterwagen nach Kleinheubach. „Als wir ankamen, klagte Eugen Bassermann über böse Füsse“, schreibt Reiß in sein Tagebuch und nennt damit eine weitere einflussreiche Mannheimer Bürgerfamilie. Der anstrengende Tag hielt die Schüler – auch Eugen – allerdings nicht davon ab, noch genüsslich im Main baden zu gehen, um schließlich nach dem Abendbrot im Wirtshaus zu schlafen – der nächste Reisetag wartete schon.

Bildungsreisen für Söhne aus gutem Haus

Für Söhne des gehobenen Bürgertums gehörten Bildungsreisen zum guten Ton. Sie konnten damit nicht nur Regionen und ihre Sehenswürdigkeiten erkunden und ihre humanistische Bildung vertiefen, sondern auch Kontakte für die Zukunft knüpfen – die Bender’sche Eliteschmiede mit herausragenden Lehrern und ausgewählten Schülern setzte dieses Ideal durch eine ihrerzeit fortschrittliche Pädagogik sehr erfolgreich um und erlangte überregionale Bekanntheit. Auch wenn Wilhelm Reiß‘ erste dokumentierte Reise mit der Erkundung von Spessart und Taunus im Vergleich zu seinen späteren Reisen auf weit entfernte Kontinente recht beschaulich erscheint, so legte sie doch wohl einen ersten Grundstein für den späteren Abenteurer.

Neugierig geworden?

Von seinen späteren Reisen brachte Wilhelm Reiß zahlreiche Fotografien mit. Diese werden im Forum Internationale Photographie verwahrt.