Graffiti als individuelle Zeugnisse des Reisens

Heute streng verboten, aber für Ägypten-Touristen im 19. Jahrhundert war die Besteigung der Cheops-Pyramide ein besonderer Höhepunkt. Ob auch Carl und Anna Reiß die Stufen erklommen haben, ist nicht überliefert. Das Mannheimer Geschwisterpaar zog es gleich zweimal an den Nil.

Das Bedürfnis, ein Zeichen der eigenen Anwesenheit zu hinterlassen, ist eine Kulturkonstante, die sich durch alle Epochen der Menschheitsgeschichte zieht. Die noch relativ junge Disziplin der Graffiti-Forschung unterscheidet im Wesentlichen zwischen den Begriffen „Inschrift“ und „Graffito“ – so die Einzahl. Während Ersterer recht weit gefasst ist, erweist sich Letzterer durch seine Motivation und Ausführung als eine spezielle Form der Inschrift. Ganz vereinfacht lässt sich sagen: handelt es sich bei einer Inschrift um eine sorgfältig geplante „Auftragsarbeit“, so ist ein Graffito eher eine spontane „Gelegenheitstat“.

Soziale und kulturelle Orte von außergewöhnlicher Bedeutung boten sich seit jeher für Graffiti und Inschriften besonders an. Die an den Beinen der Kolossalstatuen von Abu Simbel um 590 v. Chr. von griechischen Söldnern angebrachten Inschriften zählen zu den ältesten ihrer Art. Von den spätmittelalterlichen Adelsreisen seit dem 14. Jahrhundert rühren zahlreiche inschriftliche und heraldische Zeugnisse an der Cheopspyramide und den Mauern der Wüstenklöster der heiligen Antonius, Paulus und Makarios, die als damalige südliche Begrenzungspunkte der europäisch-mediterranen Welt von westlichen Reisenden aufgesucht wurden. Schließlich setzten 1798-1801 die Soldaten der Napoleonischen Armeen voller Erobererstolz ihre Namen auf die Pyramiden, Tempel und Stauen entlang der Route ihres Ägyptenfeldzuges.

Inschriften-Boom an den Bauwerken Altägyptens

Ein bis dato ungekanntes Ausmaß erreichte die Graffiti-Tradition in Ägypten zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als in Folge des napoleonischen Ägyptenfeldzuges ganz Europa in eine regelrechte „Ägyptomanie“ verfiel und das Land zu einer der bevorzugten touristischen Destinationen avancierte.

Zahlreiche seit der Mitte der 1840er Jahren entstandene Fotografien zeugen bis heute von dem touristischen Graffiti-Boom dieser Zeit und bieten der Forschung schier unerschöpfliches Bildmaterial. Auf den Aufnahmen der Monumente Altägyptens sind Namen, Jahreszahlen, bisweilen ganze Texte deutlich zu erkennen. Mitunter treten die schriftlichen Hinterlassenschaften beinahe in Konkurrenz zu den „rechtmäßig“ hier angebrachten Hieroglyphen. Besonders leicht zugängliche und exponierte Wandflächen, wie die beiden nördlichen Kolossalstatuen vor dem großen Tempel Ramses‘ II. in Abu Simbel, sind von Inschriften restlos übersät. Unter den hinterlassenen Namen finden sich jene von höchster Prominenz, so prangen dort etwa der Namenszug von Herzog Max in Bayern samt Reisedatum und herzoglichem Kurhut sowie jener von Ferdinand de Lesseps, dem Erbauer des Sues-Kanals.

Pechfackel und Meißel – Techniken der Anbringung

Die Techniken der Anbringung variierten von Meißeln, Ritzen, Schneiden bis zu Malen und Einbrennen. Letzteres war vor allem in unterirdischen Grabkammern und Tempelräumen gebräuchlich, wo die Besucher als Lichtquellen und zur Abwehr von Fledermäusen Pechfackeln mit sich trugen. Im Allgemeinen überwog jedoch die Methode, die Schriftzüge tief und dauerhaft in das Mauerwerk einzumeißeln. Die handwerkliche Umsetzung lag bei den eingebrannten, gemalten oder geritzten Graffiti, vor allem aber bei den aufwendig, zuweilen kunstvoll in Stein gemeißelten Inschriften in aller Regel nicht bei den Reisenden selber, sondern wurde für ein entsprechendes Entgelt von Einheimischen ausgeführt.

Die Reisefotografien aus Ägypten aus der Wilhelm Reiß-Sammlung

Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts haben die Geschwister Wilhelm, Carl und Anna Reiß, allesamt Sprösslinge der einflussreichen Mannheimer Unternehmerfamilie, von ihren zahlreichen Reisen umfangreiche Konvolute an Fotografien mit in ihre Heimat gebracht. Diese Aufnahmen bilden heute einen wichtigen Bestand für die Erforschung historischer Reisefotografie des 19. Jahrhunderts und werden vom Forum Internationale Photographie (FIP) der Reiss-Engelhorn-Museen betreut.

Auch Wilhelms Ägyptenkonvolute, die er im Zuge seiner beiden Reisen in den Wintermonaten der Jahre 1880/81 und 1888/89 erworben hat, sind großartige Quellen der Spurensicherung. Ob er sich selber auch namentlich an einem der Monumentalbauten Altägyptens hat verewigen lassen, bleibt sein Geheimnis, dass die mitgebrachten Fotografien nicht preisgeben.

Neugierig geworden?

Mehr über die Sammlung historischer Reisefotografien erfahren Sie auf den Seiten des Forums Internationale Photographie.

Ausgewählte Reisefotografien aus dem 19. und 20. Jahrhundert waren bis 4. Juli 2021 in der Sonderausstellung "In 80 Bildern um die Welt"zu bewundern. Sie können die Schau auch jetzt noch bei einem 360-Grad-Rundgang online erkunden. Außerdem gibt es Videos und Audio-Podcasts mit den beiden Kuratoren. Hier geht es zu den digitalen Angeboten.

Zur Schau ist auch ein reich bebilderter Katalog erschienen.

Und wenn Sie selbst ins faszinierende Reich der Pharaonen reisen wollen – der Weg ist nicht weit: Gehen Sie auf eine Entdeckungstour in unserer Ausstellung Ägypten – Land der Unsterblichkeit.