
Kulturgutverluste und Trauma
Für die einen bloßes Ausstellungsstück, für die anderen Zeichen einer tiefsitzenden Emotion: Viele Artefakte in Museen sind durch Unrechtshandlungen dorthin gelangt. Das betrifft sowohl koloniale Kontexte als auch NS-Verbrechen. Dadurch werden Traumata berührt, die sich teilweise über mehrere Generationen fortsetzen.

Mehr als 1.000 sogenannte Benin-Bronzen befinden sich in Deutschland, 29 davon in Mannheim. Ihr gewaltsamer Raub durch britische Truppen im Jahr 1897 stellt einen massiven Bruch in der Geschichtstradierung des Königreichs Benin dar und gilt als Auslöser eines kollektiven Traumas in der Gesellschaft Benins.
Der Verlust von Kulturgütern ist ein Phänomen, das weit über den materiellen Aspekt hinausgeht. Es betrifft historische, kulturelle und soziale Dimensionen und kann als mehrschichtiger Eingriff in das kollektive Selbstverständnis von Gemeinschaften verstanden werden. Kulturgüter – definiert als materielle Objekte von kultureller, historischer oder spiritueller Bedeutung – sind in vielerlei Hinsicht weit mehr als physische Artefakte. Sie dienen der Identitätsbildung, der Traditionsvermittlung, dem Erhalt des kulturellen Gedächtnisses und können das Zusammengehörigkeitsgefühl von Gemeinschaften stärken. Ihr Verlust durch Plünderung, Raub oder Enteignung, in der Regel in Kontexten von Unrecht und Unterdrückung, hinterlässt bei betroffenen Individuen und Gemeinschaften tiefe Spuren, die weit über den materiellen Verlust hinausgehen.
Die Analyse von Kulturgutverlusten und ihrer Auswirkungen auf Gemeinschaften erfordert deshalb eine interdisziplinäre Herangehensweise. Während die Provenienzforschung die historische und rechtliche Rekonstruktion der Herkunft von Objekten fokussiert, können andere Disziplinen dazu beitragen, deren emotionale Konsequenzen zu verstehen. Ziel dieses Beitrags ist es, eine Brücke zwischen diesen Disziplinen zu schlagen, um den Zusammenhang zwischen materieller Entwendung und immateriellen Auswirkungen, insbesondere im Hinblick auf kollektive Traumata, zu beleuchten.
Kulturgüter als Träger von Identität und kulturellem Gedächtnis
Kulturgüter verkörpern kulturelle, historische und soziale Werte und sind somit zentrale Elemente des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft. Sie symbolisieren Traditionen, Weltanschauungen und kollektives Wissen und stellen häufig Verbindungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft her. Ein wesentlicher Aspekt ihrer Bedeutung liegt in ihrem identitätsstiftenden Charakter. Sie fungieren als Bindeglieder innerhalb einer Gemeinschaft und ermöglichen die Vermittlung von Werten, Erinnerungen und Geschichten an nachfolgende Generationen.
Der Verlust solcher Güter infolge gewaltsamer Aneignung, kollektiver Enteignung oder systematischer Plünderung stellt einen Bruch in den narrativen und kulturellen Kontinuitäten der betroffenen Gemeinschaften dar. Dieser Verlust kann besonders tiefgreifende Auswirkungen entfalten, wenn Kulturgüter nicht nur als historische Artefakte, sondern auch als spirituell oder emotional aufgeladene Symbole verstanden werden, die eine emotionale Beziehung zwischen Gemeinschaft und Objekt begründen.
Trauma und Kulturgutverluste: Eine psychologische Perspektive
Der Begriff des Traumas bezeichnet in der Psychologie eine Verletzung der körperlichen oder seelischen Integrität, die infolge eines überwältigenden Erlebnisses auftritt. Es handelt sich um Erfahrungen, die das normale Maß von Stressbewältigung übersteigen und Betroffene in einen Zustand von innerer Ohnmacht oder Kontrollverlust versetzen. In einem kollektiven Kontext können Ereignisse wie Massenverbrechen, systematische Ausbeutung und die häufig in solchen Zusammenhängen praktizierte gewaltsame Aneignung von Kulturgütern ein kulturelles oder kollektives Trauma generieren. Es ist dabei nicht anzunehmen, dass in einer Gesellschaft die gleichen Prozesse ablaufen, wie in einem Individuum, weshalb die Ausweitung des Traumabegriffs auf Kollektive auch immer wieder kritisiert wird. Dennoch erscheint der Begriff nützlich, um den anhaltenden Einfluss von Gewalt auf die sozialen, kulturellen und psychologischen Strukturen einer Gesellschaft zu beschreiben.
Ein bedeutender Aspekt kollektiver Traumata ist die transgenerationale Weitergabe. Traumatische Ereignisse hinterlassen Spuren, die nicht auf die Erlebnisgeneration begrenzt bleiben. Nachfolgende Generationen können durch Narrative, Symbole und kollektiv geteilte Erinnerungen weiterhin betroffen sein, obwohl sie die Ereignisse selbst nicht miterlebt haben. Dieser Prozess wird wissenschaftlich auch als „Post-Memory“ bezeichnet, wobei sich die Weitergabe nicht nur durch explizite Erzählungen manifestiert, sondern auch durch nonverbale Kommunikationsmuster und implizites Wissen innerhalb der Gemeinschaft.
Viele postkoloniale Gemeinschaften oder durch die Shoa betroffene Gruppen erfahren den Verlust ihrer Kulturgüter als fortdauernde Wunde, die sowohl symbolisch als auch praktisch den Umgang mit der Vergangenheit beeinflusst. Hierbei muss auch berücksichtigt werden, dass Diskriminierung und Machtasymmetrien weiter fortbestehen und Raubkunst somit als affektives Objekt ein historisches Ereignis, aber auch dessen andauernden Konsequenzen im Hier und Jetzt symbolisieren kann. Zudem können auf der Täterseite Schuld- und Schamgefühle die Reflexion und Übernahme von Verantwortung blockieren und somit die Auseinandersetzung erschweren.
Die Funktion der Provenienzforschung: Aufarbeitung und Sichtbarmachung
In diesem Kontext spielt die Provenienzforschung eine zentrale Rolle. Sie verfolgt das Ziel, die Herkunft und Besitzgeschichten von Kulturgütern zu rekonstruieren, insbesondere in Fällen, in denen der Erwerb unter Unrechtsbedingungen geschah. Historisch betrachtet dient die Provenienzforschung dabei nicht nur der Identifikation rechtlicher Eigentumsverhältnisse, sondern auch der Herstellung eines narrativen Zusammenhangs, der die Bedeutung und Vergangenheit eines Objekts entschlüsselt.
Provenienzforschung entfaltet ihre gesellschaftliche Bedeutung vor allem dadurch, dass sie unrechtmäßige Aneignungen aufdeckt und zum Diskurs macht. Historischen Machtverhältnissen, die zur Translokation von Kulturgütern führten – etwa kolonialer Gewalt oder den Mechanismen nationalsozialistischer Verfolgung –, wird damit ein Rahmen gegeben, der es ermöglicht, die Vergangenheit kritisch zu reflektieren. Der Prozess der Rückgabe von Kulturgütern, der oft die Folge solcher Forschungsarbeiten ist, unterstützt nicht nur die materielle Rückführung, sondern bietet auch die Möglichkeit zur Anerkennung von Unrecht.

Grenzen und Potenziale von Rückgaben
Eine zentrale Frage im Umgang mit Kulturgutverlusten ist, inwieweit die Rückgabe von Museumsobjekten oder auch Kunstgegenständen aus Privatbesitz eine produktive Form der Auseinandersetzung darstellen kann. Es existiert keine Rückkehr zu einem Zustand vor dem Verlust. Der entstandene Schaden – materiell, emotional und symbolisch – bleibt unweigerlich Teil der historischen Erfahrung. Dennoch können Rückgaben eine wichtige Rolle spielen, um die Möglichkeit der Verarbeitung und Neuverhandlung von Identität zu schaffen. Der Begriff des „Repair“, der im Gegensatz zu einer vollständigen „Heilung“ steht, beschreibt diesen Prozess: Es geht um eine Form der reparativen Auseinandersetzung, die nicht auf die Wiederherstellung eines früheren Zustands abzielt, sondern darauf, neue narrative und symbolische Grundlagen zu schaffen.
Die Rückgabe von Kulturgütern ist allerdings nur dann wirksam, wenn sie nicht als isolierte Handlung verstanden wird. Es bedarf eines dialogischen Ansatzes, der sowohl die Perspektiven der Herkunftsgemeinschaften als auch der aufnehmenden Institutionen berücksichtigt. Der Prozess muss nicht nur symbolisch, sondern auch substanziell zur kulturellen Selbstbestimmung der Betroffenen beitragen. Eine rein formalistische Rückgabe ohne Reflexion oder Veränderung des narrativen und strukturellen Unrechts, das diese Verluste verursachte, bleibt unzureichend.
Museen und Institutionen als Akteur:innen interdisziplinärer Reflexion
Museen und Institutionen spielen eine entscheidende Rolle im Umgang mit Kulturgutverlusten. Sie sind nicht nur Orte der Verwahrung und Ausstellung, sondern auch Räume für die Reflexion und Vermittlung von Artefakten und deren Geschichte sowie Geschichte als solcher. Ihre Verantwortung besteht darin, die Herkunft und Bedeutung der Objekte, die in ihren Sammlungen liegen, transparent zu machen und sich mit den Umständen der Aneignung auseinanderzusetzen, die häufig die Grundlage dieser Sammlungen bilden.
Ein sensibler, selbstkritischer und kooperativer Umgang mit Kulturgütern erfordert jedoch eine interdisziplinäre Perspektive, die Provenienzforschung, Traumaforschung und kulturelle Vermittlung integriert. Hierbei müssen insbesondere die Perspektiven der Herkunftsgemeinschaften berücksichtigt werden, deren Stimmen oft marginalisiert bleiben. Museen müssen ihrer Rolle gerecht werden, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch Räume zu schaffen, in denen kulturelle Verluste, Identitätsbrüche und mögliche Formen der Auseinandersetzung sichtbar gemacht werden.
Museen als digitale und partizipative Wissensplattformen
Eine dringende Grundlage, um der problematischen Geschichte von Kulturgütern zu begegnen, besteht in der Digitalisierung und der Online-Verfügbarkeit von Sammlungsteilen. Digitale Archive und Sammlungen können ein Mittel sein, den Zugang zu Kulturgütern zu demokratisieren und sie einer breiteren Öffentlichkeit sowie den Herkunftsgemeinschaften zugänglich zu machen, besonders wenn Rückgabeprozesse noch nicht abgeschlossen wurden oder nicht möglich sind. Dabei muss jedoch darauf geachtet werden, dass Digitalisierung keine Ersatzlösung für Rückgaben darstellt, sondern als ergänzendes Instrument verstanden wird.
Die Nutzung digitaler Technologien bietet vielfältige Möglichkeiten, die klassische Arbeit im Museum zu erweitern und zu modernisieren. So können durch die Online-Stellung von Sammlungsteilen – sei es in Form hochauflösender Bilder, detaillierter Beschreibungen oder interaktiver Präsentationen – geografische und wirtschaftliche Barrieren überwunden werden, die den Zugang zu physischen Objekten in den Institutionen oft einschränken. Dadurch erhalten nicht nur die interessierte Öffentlichkeit und Wissenschaftler:innen, sondern auch Angehörige von Herkunftsgemeinschaften die Möglichkeit, sich mit den Objekten auseinanderzusetzen, sie zu recherchieren oder deren Bedeutung für ihre Kultur neu zu beleben.

Besondere Chancen ergeben sich dabei auch für Formen des kulturellen Austauschs. Durch digitale Datenbanken und öffentlich zugängliche Plattformen können Herkunftsgemeinschaften eingeladen werden, bisher wenig bekannte Kontexte, Geschichten oder Bedeutungen von Objekten beizutragen. Diese partizipativen Ansätze zur Erweiterung bestehender Datenbanken können dazu führen, die oft eurozentrisch geprägten Perspektiven von Museumsdokumentationen zu diversifizieren. Ebenso ermöglicht die Digitalisierung eine weitere Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Frage der Provenienz und die ethischen Herausforderungen, die mit Kulturgutverlusten oder -diebstählen einhergehen.
Allerdings erfordert die Digitalisierung einen sensiblen und verantwortungsvollen Umgang seitens der Institutionen. Es ist wichtig, sicherzustellen, dass die Herkunftsgemeinschaften in die Datenerfassung, Präsentation und den Verwendungsrahmen aktiv eingebunden werden. Ohne deren Zustimmung besteht das Risiko, dass die Digitalisierung als eine neue Form der Aneignung wahrgenommen wird, bei der die Kontrolle über das eigene kulturelle Erbe erneut einseitig ausgelagert wird. Transparenz ist hierbei zentral, ebenso wie die Möglichkeit, dass Herkunftsgemeinschaften die Nutzung der Daten mitbestimmen können.
Ebenfalls problematisch ist die Frage nach kulturell sensiblen Gegenständen und menschlichen Überresten, deren Zugriff über digitale Plattformen möglicherweise eine unangemessene oder respektlose Nutzung provozieren könnte. Hier müssen klare ethische Richtlinien angewendet werden, um sicherzustellen, dass auch digitale Reproduktionen respektvoll und vorsichtig behandelt werden. Dies betrifft etwa rituelle oder spirituell bedeutsame Objekte und menschliche Überreste, deren öffentliche Zugänglichkeit durch technische Mittel eingeschränkt oder durch den jeweiligen Kontext vermittelt werden sollte.
Fragen der narrativen Verantwortung bei Ausstellungen
Auch die Art, wie Geschichte in Ausstellungen präsentiert wird, muss überdacht werden. Narrative, die bisher oft von einer westlichen oder institutionellen Perspektive geprägt sind, sollten systematisch durch vielschichtigere Darstellungen ergänzt werden, die auch die Kontexte der Aneignung und die Sichtweisen der Herkunftsgemeinschaften reflektieren. Die Sensibilität gegenüber solchen Narrativen kann ebenfalls durch interdisziplinären Austausch – etwa mit Traumaforscher:innen oder Historiker:innen – geschärft werden.
Ein weiterer wichtiger Schritt liegt in der aktiven Einbindung der Herkunftsgemeinschaften in Entscheidungsprozesse. Dies betrifft nicht nur Rückgabeverfahren, sondern auch die Interpretation, Präsentation und Konservierung von Objekten. Die Perspektiven dieser Gemeinschaften auf ihre Objekte müssen respektiert und ernst genommen werden. Hierbei können partizipative Ansätze helfen, die das Fachwissen und die kulturellen Bedürfnisse der Betroffenen in den Mittelpunkt stellen. Solche Ansätze fördern den Dialog zwischen Museen und Gemeinschaften und können dabei helfen, bestehende asymmetrische Machtverhältnisse zu hinterfragen und zu überwinden. Nur durch solche Kooperationen können Museen ihrer Rolle als Vermittler:innen gerecht werden und langfristig Vertrauen aufbauen.
Fazit: Der Umgang mit Verlusterfahrungen als Aufgabe
Die multiplen Dimensionen von Kulturgutverlusten erfordern eine interdisziplinäre und dialogische Herangehensweise. Der Verlust solcher Objekte betrifft nicht nur die Vergangenheit, sondern ist in seinen kulturellen und sozio-affektiven Konsequenzen Teil der Gegenwart und Zukunft. Der respektvolle Umgang mit diesen Verlusten verlangt die Kombination geschichtlicher Rekonstruktion, psychologischer Sensibilität und kultureller Verantwortung.
Die Anerkennung von Verlust und kollektiven Traumata ist dabei nicht nur ein Anliegen der betroffenen Gemeinschaften, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe. Sie fordert dazu auf, narrative Leerstellen zu schließen, Verletzungen zu benennen und gemeinsam daran zu arbeiten, historische und kulturelle Brüche als Teil unserer kollektiven Geschichte zu verstehen und produktiv zu verarbeiten. Da Raubkunst sich häufig in den Archiven von Museen befindet, kommt ihnen hierbei eine besondere Verantwortung zu.

Dieser Artikel basiert auf einer Podiumsdiskussion am 14. Januar 2025 unter dem Titel „Kulturgutverluste und Trauma“. Die Diskussion fand an den Reiss-Engelhorn-Museen statt und brachte Perspektiven aus der Provenienzforschung, der Psychologie und der Museumsarbeit zusammen. Der vorliegende Artikel ist jedoch keine direkte Dokumentation der Diskussion, sondern gibt die Kernfragen und Themen, die dort erörtert wurden, wieder. Ziel ist es, den Diskurs über den Verlust von Kulturgütern und seine weitreichenden Folgen zu vertiefen und das Nachdenken über interdisziplinäre Lösungsansätze anzuregen.
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