Mannheimer Puppenküche um 1900
Eine auf den ersten Blick unscheinbare Puppenküche weckt Erinnerungen an die eigene Kindheit und illustriert ein spannendes Kapitel der Mannheimer Geschichte. Die Zeitreise führt in die Quadratestadt an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert.
Zufallsbegegnung mit der eigenen Kindheit
Während der Corona-Pandemie stand die Zeit still und damit auch der Museumsbetrieb. Durch diesen Umstand kam in der Ausstellung „Belle Époque“ eine Zufallsbegegnung zustande. Bei den Rundgängen im geschlossenen Museum zog es mich immer wieder zu einer Puppenküche, die neben mondänen Ölgemälden bedeutender Mannheimer Frauen fast schon bescheiden und geduldig darauf wartet, dass man sie in Augenschein nimmt.
Wortwörtlich „wohl behütet“ unter einer Glashaube öffnet sich zum Betrachter hin die Szenerie einer um 1900 zeitgenössischen Küche, eingerahmt durch den sich trapezförmig nach außen öffnenden Grundriss. Sofort fällt der fast real wirkende, aufgemalte Fliesenboden ins Auge, welcher den Blick auf das in Pastellfarben gehaltene Holz-Interieur lenkt. Dieses enthält detailgetreue Miniaturnachbauten von Küchenutensilien aus Metall und Porzellan.
Nachdem ich einige Male davor stehengeblieben war, wurde mir bewusst, warum diese Puppenküche so eine Anziehungskraft auf mich ausübt: Sie erinnert mich an die Puppenstube bei meinen Großeltern, mit der ich hin und wieder gespielt hatte, wenn ich dort zu Besuch war. Eine Zimmerszene ähnlich wie diese. Mein Großvater mütterlicherseits hatte sie für meine große Schwester angefertigt. Dass dies eigentlich gar kein typisches Spielzeug unserer Kindergeneration (1970er- bis 1990er-Jahre) ist, haben wir nie wahrgenommen. Man muss ja auch bei Kindern, die auf Puppen treffen, eigentlich nicht mehr viel erklären. Sie scheinen sofort zu wissen, wie man damit spielt.
Geschichte der Puppenküche
Mein Interesse war geweckt und ich wollte mehr über die Geschichte dieses besonderen Exponats erfahren. Während meiner Recherche machte ich die angenehme Bekanntschaft mit Dr. med. Horst Baumann, dem letzten Besitzer der Puppenküche. Von ihm erfuhr ich, dass es sich um die Nachbildung der realen Küche der Familie Breidenbach aus Mannheim handelt. Das Ehepaar Carl Breidenbach (1842 – 1897) und Margarete, geb. Lösch hatte mehrere Töchter: Katharina (geb. 1868), Emilie, verheiratete Osiander (geb. 1874), Frieda (geb. 1877) und Greta (geb. 1881). Carl Breidenbach war Bijouterie-Fabrikant in Mannheim. Seine Firma verarbeitete vor allem Schildpatt für Kämme und Dinge des täglichen gehobenen Lebens.
Die Küche gehörte der jüngsten Tochter Greta, verheiratete Hüglin. Das Ehepaar Hüglin hatte keine Kinder, die Nichte Eugenie Osiander (1906 – 1993), verheiratete Baumann, war das Patenkind und erhielt die Küche zum Geschenk. Die nächste Besitzerin war dann Lore Baumann (geb. 1929), die Schwester von Dr. med. Horst Baumann, der sie schließlich an den Mannheimer Altertumsverein stiftete, dessen Bestände die Reiss-Engelhorn-Museen zu einem großen Teil verwahren.
Eine Provenienzgeschichte wie diese ist nicht unüblich für Puppenküchen und -stuben. In der Regel kommen sie nach jahrzehntelangem Hegen und Pflegen durch die Besitzerinnen, die inzwischen aus dem Kindheitsalter herausgewachsen sind, zu Sammlern und Museen, wenn kein weiterer Erbe mehr vorhanden ist oder die aktuellen Nachkommen keinen spielerischen oder zumindest ideellen Bezug mehr dazu herstellen können.
Mannheim um 1900
Die Puppenküche stellt als Zeitzeugin optisch ein wichtiges Kapitel der Mannheimer Geschichte dar. Wie viele größere Städte Deutschlands erlebte auch Mannheim ab den 1850er-Jahren einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Industrie nahm rasant zu und hatte mehrere Metamorphosen innerhalb des Stadtbildes zur Folge. Die Einwohnerzahl stieg vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1915 von fünfzigtausend auf über zweihunderttausend Personen an. Die Schaffung einer Vielzahl neuer Arbeitsplätze, gepaart mit der wohl attraktivsten Entlohnung im badischen Einzugsgebiet, führte zur vermehrten Ansiedlung in der Quadratestadt. Die Wohnraumbeschaffung wurde damit unweigerlich zur Herausforderung. Trotz ordentlicher Gehälter waren die verfügbaren Wohnungen nicht für jeden erschwinglich. Deshalb entstanden um 1900 die heutigen Wohngebiete Lindenhof, Neckarstadt und Schwetzingerstadt.
Die Familie Breidenbach lebte genau zu dieser Zeit in der bereits bestehenden Villengegend der L-Quadrate. Hier nahm auch die Geschichte der vorgestellten Puppenküche ihren Anfang. Gleichzeitig hatte Carl Breidenbach mit seiner Bijouterie-Fabrik im Lindenhof eine ebenso standesgemäße Nachbarschaft. Einige Jahrzehnte später baute Karl Baumann, Custos des großherzoglichen Antiquariums und Großvater von Lore und Horst Baumann, im Lindenhof ein Haus und die Familie wurde in der Rennershofstraße sesshaft. Dieser Stadtteil war hauptsächlich vom Beamtentum geprägt, sei es im Bereich der Reichsbahn oder im schulischen Umfeld. Bei Innenstadt und Lindenhof handelte es sich also um Stadtviertel, in welchen das gehobene Bürgertum zu Hause war. Jenes, bei dem der Brauch der Puppenstuben und -küchen weit verbreitet war.
Neugierig geworden?
Zahlreiche weitere historische Puppenküchen und Kaufläden aus der Zeit um 1900 können Sie noch bis 26. Mai 2024 in der Ausstellung Kinderträume entdecken.
Boom-Zeit, Mode, Frauenbild und Mobilität – mehr über Mannheim um 1900 erfahren Sie in der Ausstellung Belle Époque. Hier erwartet Sie auch die vorgestellte Puppenküche.
Gehen Sie mit Kurator Andreas Krock auf eine Video-Führung durch die Schau oder werfen Sie einen Blick in die Begleitpublikation.
Lesen Sie auch den Blog-Beitrag Gesichter der Großstadt
Lese-Tipp
- Mehr über die Mannheimer Puppenküche um 1900 und das Spielen mit Puppen generell erfahren Sie im Band 43 der „Mannheimer Geschichtsblätter“, erschienen im verlag regionalkultur 2022
- Der reich bebilderte Katalog zur Ausstellung „Kinderträume“ entführt Sie in die Zeit um 1900, erschienen im Verlag Nünnerich-Asmus 2023
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