Unbegrenzte Freiheit?
Viele träumen in Corona-Zeiten von Freiheit und einem Urlaub im eigenen Wohnmobil. Inspiriert vom anhaltenden Caravan-Boom schauen wir uns eine Fotografie von Robert Häusser genauer an. Sie trägt den ironischen Titel "Holiday".
„My Car is my Castle“ bringt die immens gestiegene Nachfrage nach Reisemobilen und Caravanen zum Ausdruck. Das Corona-Virus trifft alle, auch die Camper-Touristen. Wo viele Betriebe durch den Lockdown in existenzielle Nöte gerieten, gehört die Wohnmobil-Branche – wie auch die Fahrradindustrie – zu den absoluten Siegern. 2020 wurden in Deutschland erstmals mehr als 107.000 sogenannte Freizeitfahrzeuge neu zugelassen – ein Drittel mehr als im Vorjahr und ein neuer Rekord. Die Caravan-Industrie erlebte besonders in den Monaten Mai bis Juli 2020 eine ungeahnte Kauflust. Beliebt sind die Kastenwagen oder Camper-Vans mit Aufstelldach, um etwa für junge Familien vier Schlafplätze anzubieten. Der Urlaub mit dem eigenen Wohnmobil verheißt in Corona-Zeiten nicht nur Freiheit und Flucht vor dem Alltag, sondern auch Sicherheit – schließlich hat man sein eigenes Zuhause immer dabei und kann sich abschotten.
Begeisterung in allen Generationen
Von Basic-Ausstattung bis First Class ist alles im Angebot, wobei sich die Preisspanne von unter 50.000 bis über 500.000 Euro bewegen kann. Der Run auf Wohnmobile erlebte auch in den Zeiten des rasanten wirtschaftlichen Aufschwungs ab den 1950er Jahren – bekannt als Wirtschaftswunder – einen Boom. Die Nachkriegsgeneration wie die heutige Z-Generation verbindet eines, die Sehnsucht – nach der langen Phase der Immobilität und des Freiheitsentzugs – sich endlich wieder frei zu bewegen. Das rollende Heim bringt uns zu den Sehnsuchtsorten.
Die Werbung zeigt uns Urlaubsplätze mit paradiesischen Meeresstränden in einem mediterranen Ambiente oder vor Bergkulissen inmitten der Natur, wo weit und breit keine anderen Touristen sind, welche die Idylle stören könnten. Bei dem anhaltenden Trend kann die Wirklichkeit eine ganz andere sein, die eher zu einem Massentourismus führt. Der Ferienplatz an der Sonne könnte in einem Albtraum enden und man sehnt sich wieder an seinem stillen Ausgangsort zurück.
Zeichen der Immobilität
Im Bild von Robert Häusser sehen wir ein Wohnmobil, das eingehaust bzw. umzäunt ist von einem Bretterverschlag und Gitterzaun, so dass der Caravan nur zur oberen Hälfte mit den schwarzen Fenstern, die keinen Blick ins Innere des Wohnwagens zulassen, sichtbar ist. Die Schwarz-Weiß-Aufnahme ist in ihren Hell-Dunkel-Gewichtungen kontrastreich und ist ein wesentliches Stilmerkmal von Robert Häussers Abstrahierungsprozess von der Wirklichkeit. Häusser folgt seinem foto-philosophischem Credo: Die Reduktion auf das Wesentliche durch Abstraktion der Realität. Das Bild gehört in die von Häusser bezeichnete Werkgruppe seines Künstlerischen Oeuvres „Orte und Situationen“.
Aura des Unheimlichen und Surrealen
Schon seit den 1940er Jahren setzt er sich mit diesem Phänomen auseinander und wie ein Spurensucher erkundet er mit seiner Kamera Orte, Plätze, Objekte, die zu Chiffren der Einsamkeit, Verlassenheit, Trostlosigkeit oder der Anonymität werden. Durch die Menschenleere bekommen die Bilder etwas Unheimliches. Der eingezäunte Wohnwagen zeigt eine definierte territoriale Abgrenzung wie Einengung und wird zugleich zu einer geschützten Raumzone. Wie ein Schutzpanzer wirken die Lattenzaunbretter um den Wohnwagen herum. Das eingehauste und eingeigelte Objekt bekommt eine surreale und magische Aura, da es in seiner Funktion zweckentfremdet wurde. Das Gefährt steht normalerweise für Mobilität und Freiheit, die in Häussers Bild jedoch völlig abhandengekommen sind, und ein Gefühl des ewigen Stillstands stellt sich in dieser eingefrorenen Momentaufnahme ein.
„Holiday“ als leise Ironie und Komik
Häussers Bildtitel „Holiday“ zeugt geradezu von einer leisen Ironie und Komik und bildet eine gegenläufige Situation zu dem jetzigen Caravan-Boom, der uns wie ein Reisevirus befällt und uns auf Autobahnen und Landstraßen in abgelegene oder touristisch überfüllte Naturräume treibt. Nach dem Motto, je entfernter wir uns von unserem Ausgangspunkt bewegen, desto größer ist die Chance, Aufregendes und Exotisches in unserem Urlaub zu erleben. In Häussers Bild jedoch wird dies alles ad absurdum geführt und unser rasanter Reise-Speed steht einer völlig ausgebremsten, entschleunigten Zeit gegenüber.
Ausnahmefotograf Robert Häusser
"Bewusst Sehen ist ein permanentes Abenteuer und erhält in uns eine Unruhe, die uns bewegt, hinter die Dinge sehen zu wollen: um ein Mehr an Wirklichkeit zu erfahren“, sagte Robert Häusser. Der gebürtige Stuttgarter war einer der wichtigsten Fotografen der Nachkriegszeit und zählt zur Klassischen Moderne. Als erster deutscher Fotograf erhielt er 1995 eine hohe Auszeichnung – den Hasselblad Award, der von Fotokennern als der "Nobelpreis“ in der Fotografie angesehen wird. In seinen strengen Schwarz-Weiß-Kompositionen bilden Form und Inhalt eine untrennbare Einheit. Häussers Bilder sind keine reinen Abbilder der Realität, sondern werden zu Sinnbildern unserer Existenz. Er vermag das Unsichtbare sichtbar und das Sichtbare durchsichtig werden zu lassen.
Neugierig geworden?
Mehr über Robert Häusser und sein Werk erfahren Sie auf den Seiten des Forums Internationale Photographie.
Das Bild "Holiday" sowie weitere ausgewählte Reisefotografien aus dem 19. und 20. Jahrhundert waren bis 4. Juli 2021 in der Sonderausstellung "In 80 Bildern um die Welt"zu bewundern. Sie können die Schau auch jetzt noch bei einem 360-Grad-Rundgang online erkunden. Außerdem gibt es Videos und Audio-Podcasts mit den beiden Kuratoren. Hier geht es zu den digitalen Angeboten.
Zur Schau ist auch ein reich bebilderter Katalog erschienen.