Was macht eigentlich ein Provenienzforscher?
In den vergangenen Jahren ist die Frage nach der Herkunft von Museumsobjekten immer wichtiger geworden. Die Weltkulturen-Sammlung der rem umfasst rund 40.000 Artefakte aus allen Erdteilen. Unter welchen Umständen die Stücke angeeignet wurden und welche Wege sie bis nach Mannheim zurückgelegt haben, ist bisher nur teilweise erforscht. Um ihrer Herkunft auf den Grund zu gehen, braucht es aufwendige Recherchen. Provenienzforscher Jamie Dau gibt einen Einblick in seine Arbeit.
Jamie Dau ist seit Anfang des Jahres als Referent für Provenienz und Archive an den Reiss-Engelhorn-Museen tätig. Er ist Anthropologe und studierte in Heidelberg, Mainz, Toulouse und Wien. In den letzten Jahren erforschte er am renommierten MARKK in Hamburg die Herkunft von Sammlungen aus Westafrika und Ozeanien. Dort war er unter anderem auch an Ausstellungen zu Kulturgütern aus Benin und zu Flechtkunst von den Marshallinseln beteiligt. Um ein Bild von seiner Arbeit zu bekommen, haben wir ihm ein paar Fragen gestellt.
Was machen Provenienzforscher:innen?
Ganz viele Sachen. Klassischerweise ist Provenienzforschung die Untersuchung der Herkunft von Kunst- und Kulturgegenständen. Der Begriff leitet sich vom lateinischen Wort provenire ab, was herkommen bedeutet. Wir gehen der Frage nach, wie Artefakte in die Sammlungen kamen. Dafür untersucht man Provenienzketten. Man schaut, wer zu welchem Zeitpunkt ein Objekt „besessen“ hat.
Den klassischen Provenienzbegriff muss man allerdings ein bisschen erweitern. Klassischerweise kennt man das Themengebiet in Bezug auf NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut. In diesen Fällen ist in der Regel bekannt, wer die Urheber der Kunstwerke sind. Hier geht es in erster Linie darum, herauszufinden, wer der rechtmäßige Eigentümer oder Besitzer ist. Die Urheberschaft steht zumeist außer Frage und die Provenzienzkette eher im Vordergrund. Bei Sammlungsbeständen aus kolonialen Kontexten wissen wir jedoch oft nicht, wer ein Objekt hergestellt hat. Hier ist auch die Zuordnung zu einer bestimmten Gemeinschaft oder zu einer bestimmten Werkstatt oder Gilde Teil der Provenienzforschung sowie die Betrachtung der Einliefererpersönlichkeit.
Ich bin an den Reiss-Engelhorn-Museen für beide Bereiche verantwortlich. Der Schwerpunkt liegt hier im Haus allerdings vor allem auf kolonialen Kontexten. Das ist auch meine Kernexpertise. Kolonialhistorisch bedingt stammen die meisten Bestände in den Depots unserer Weltkulturen-Sammlung aus Afrika, aber ich möchte mich auch anderen Themen zuwenden.
Und wie kann man sich die Arbeit im Detail vorstellen?
Wir bekommen oft Anfragen von externen Kolleg:innen zu bestimmten Objekten. Die rem verwahren eine hochkarätige Sammlung und viele Objekte sind publiziert und bekannt. Provenienzforschung ist eine objektbezogene Forschung, das heißt man geht immer vom Objekt aus. Es gibt bestimmte Provenienzmerkmale: Entstehungszeitraum, was ist es überhaupt, woher kommt es, der Eingangszeitpunkt – also wann ist es Teil der Sammlung geworden – und wo war es vorher, wie ist die Provenienzkette, wer waren die Vorbesitzenden, wer ist Urheber:in? Nachdem man sich das Objekt selbst angeschaut hat, ist Provenienzforschung vor allem Archivrecherche. Hinzu kommen beispielsweise archäometrische Untersuchungen, was an den rem dank hauseigener Forschungseinrichtungen möglich ist. Man kann z.B. die Datierung von Holz oder die Zusammensetzung des Metalls untersuchen und das kann Aufschlüsse darüber geben, wie alt ein Artefakt ist oder aus welcher Region es stammt.
Was macht die Provenienzforschung so wichtig?
Provenienzforschung ist deshalb wichtig, weil sie versucht, Klarheit zu schaffen. Zum einen für die Museen selbst. Wir schauen, woher stammen unsere Bestände, welche Herkunftsgeschichte weisen sie auf? Haben wir enteignete Kunstwerke in der Sammlung und wie verhalten wir uns dazu? Zum anderen schafft die Provenienzforschung Transparenz. Das ist mir total wichtig, vor allem in Bezug auf koloniale Kontexte. Hier geht es ganz stark darum, dass wir Zugänglichkeiten schaffen: Was ist in der Sammlung und was wissen wir darüber, welche Bestände verwahren wir, woher kommen diese Bestände und was haben wir an Dokumentation dazu? Diese Basisinformationen bereit zu stellen ist sehr wichtig. Und dann schafft Provenienzforschung im besten Fall Klarheit über Eigentumsverhältnisse.
Warum ist die Provenienzforschung vermehrt Teil des öffentlichen Diskurses?
Tatsächlich ist das Thema ja schon seit längerer Zeit aktuell. In Deutschland haben wir ganz stark eine Debatte, die sich an bestimmten Themen aufhängt, z.B. Stichwort Benin-Bronzen. Ein Schlüsselmoment in Bezug auf NS-verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut war sicherlich der Schwabinger Kunstfund. Das sind Themen, bei denen das Feld Provenienzforschung in den letzten Jahren immer wieder in den Medien relevant war.
Provenienzforschung als Methode wurde von Kunsthistoriker:innen aber eigentlich schon immer angewandt. Kurator:innen haben schon immer, beispielsweise wenn sie für Ausstellungen recherchiert haben, Provenienzforschung betrieben. Also ist es eigentlich nichts Neues, dass man sich anschaut, woher die Objekte stammen und wer die Einlieferer waren. Aber dass man das systematisch durchführt und wirklich versucht, die Herkunftsgeschichte ganzer Bestände aufzuarbeiten, ist relativ neu und spätestens seit 2017 ein Thema in Bezug auf koloniale Kontexte.
In Deutschland hat man relativ spät damit begonnen, sich mit der kolonialen Vergangenheit zu beschäftigen. Aber das Thema ist in den letzten Jahren immer stärker in den Fokus gerückt. Es gab eine große Debatte um das Humboldt Forum im wiederaufgebauten Stadtschloss in Berlin. Damit hat auch die Provenienzforschung immer mehr an Bedeutung gewonnen. Spätestens seit Emanuel Macrons Rede in Ouagadougou 2017 und dem Bericht von Bénédicte Savoy und Felwine Sarr 2018 hat das Ganze mehr mediale Resonanz erfahren. Gerade in Bezug auf Ozeanien sind populärwissenschaftliche Bücher wie „Das Prachtboot“ von Götz Aly entscheidende Publikationen. 2019 gab es eine große Tagung und innerhalb des Arbeitskreises Provenienzforschung hat sich die AG Koloniale Provenienzen gegründet. Die Debatte hat sich stetig ausgeweitet und an Bedeutung gewonnen.
Wie sieht es mit Rückgaben aus?
Wenn wir über Rückgaben sprechen, öffnet sich eine juristische Dimension. Rückgaben beinhalten sowohl Restitution von Objekten als auch Repatriierungen von menschlichen Überresten, die hier an den rem auch schon durchgeführt wurden. Diese Dimension muss man allerdings trennen von Provenienzforschung. Provenienzforschung ist oder kann Voraussetzung sein für Rückgaben. Die Tatsache das man Provenienzforschung durchführt, heißt aber nicht, dass man Objekte zurückgeben muss. Es ist eine ergebnisoffene Forschung. Ich betrachte Provenienzforschung als wissenschaftliche Methode bzw. einen wissenschaftlichen Vorgang, wohingegen Rückgaben ein politischer Vorgang sind.
Falls doch mal eine Rückgabe im Raum steht, ist das dann auch noch die Aufgabe von Provenienzforscher:innen?
Meine Aufgabe in Bezug auf Rückgaben wäre das Wissen um das betreffende Objekt zusammenzutragen und bereitzustellen. Das kann man sich vorstellen wie ein Gutachten, das man schreibt und man gibt quasi ein Votum ab. Die eigentliche Rückführung ist dann aber tatsächlich nicht die Aufgabe eines Provenienzforschers. Da sind ganz verschiedene Personen involviert, unter anderem unsere Direktion und natürlich auch die Stadtverwaltung. Man muss sich auch bewusst machen, dass die Objekte in den Sammlungen Eigentum der Stadt sind und wenn man etwas aus dem Bestand des Museums entfernt, dann ist das quasi Eigentum der Stadt, das man weggibt. Aus meiner Sicht spricht gar nichts gegen Rückgaben. Die rem sind offen für Rückgaben, es muss nur eine wissenschaftliche Grundlage geben. Rückgaben ohne Provenienzforschung sehe ich kritisch, aber hier im Haus kann man über alles reden und diskutieren und wir sind jederzeit offen für Anfragen von Herkunftsgemeinschaften.
Wo liegen die Herausforderungen Ihrer Arbeit?
Ich bin ja an den rem nicht nur verantwortlich für die Provenienzforschung, sondern auch für die Archive. Wir sind ein Mehrspartenhaus mit vielen verschiedenen Abteilungen und jede Abteilung hat ein eigenes Archiv. Ein übergreifendes Archivierungskonzept zu entwerfen, ist also eine Herausforderung. Im Bereich Provenienzforschung liegt die Herausforderung darin, Prioritäten zu setzen. Welchen Bestand nimmt man sich als nächstes vor? Das Schöne ist, dass wir systematisch vorgehen können. Den rem ist es durch interne Umstrukturierungen gelungen, eine feste Stelle für Provenienzforschung zu schaffen. Gerade zu kolonialen Kontexten ist das sehr selten und besonders in der deutschen Museumslandschaft. Es ist ein großer Verdienst des Hauses, dass man erkannt hat, dass das Thema relevant und wichtig ist.
Zusammen mit meiner Stelle wurde auch die Stelle des Referenten für KI und Digitalstrategie geschaffen. Mit dem zuständigen Kollegen Leslie Zimmermann arbeite ich eng zusammen, weil wir festgestellt haben, dass Provenienzforschung gar nicht losgelöst von den Digitalisierungsbestrebungen im Museum stattfinden kann – gerade in Bezug auf die Archive wird das besonders deutlich. Für einen Menschen allein ist es nicht machbar, jede Akte physisch durchzulesen. Wir müssen Methoden und Mittel finden, wie wir uns die aktuellen Entwicklungen im Bereich der KI zunutze machen können. Ein wichtiges Thema ist auch die Bereitstellung der Ergebnisse unserer Forschung im digitalen Raum – einerseits für eine breite Öffentlichkeit, andererseits aber natürlich auch für die Herkunftsgemeinschaften. Hierfür brauchen wir eine digitale Sammlung. Das ist eine aktuelle Herausforderung.
Wie wird man eigentlich Provenienzforscher:in?
Der Zugang ist ganz unterschiedlich, vor allem weil die Arbeitsgebiete sehr breit sind. Die allermeisten Kolleg:innen studieren Kunstgeschichte oder Geschichte. Ich selbst bin Anthropologe und habe einen kulturwissenschaftlichen Background. Ich interessiere mich für materielle Kultur aus außereuropäischen Sammlungen und ich habe während und nach meinem Studium angefangen mich für Provenienzforschung zu interessieren. Ich habe damals zu einer Gipsabguss-Sammlung nach Emma und Felix von Luschan gearbeitet – koloniale Akteure, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aktiv waren. Ich war wissenschaftlicher Mitarbeiter an einer Universität und war dann für dreieinhalb Jahre am MARKK in Hamburg als Provenienzforscher für den Kolonialen Kontext und habe mich in dieser Zeit stark spezialisiert und viel gelernt. Als ich angefangen habe zu studieren, habe ich mir nie gedacht: Ich werde Provenienzforscher und arbeite mal im Museum. Aber es hat sich so ergeben und ich bin sehr glücklich über diese Fügung. Man muss auch ein Teamplayer sein und gerne recherchieren. Wenn man nicht gerne in Archive geht und sich nicht gerne in Themen vergräbt und stattdessen schnelle Erfolge will, dürfte Provenienzforschung nicht unbedingt das Richtige für einen sein.
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