Willy Brandt – Zum 30. Todestag des ersten SPD-Kanzlers
Die Kameras der Fotografen haben unzählige Momente im politischen wie auch im privaten Leben von Willy Brandt dokumentiert. Der Fotograf Robert Häusser porträtierte den damaligen Regierenden Bürgermeister Berlins und SPD-Kanzlerkandidaten in den schicksalshaften Tagen des Berliner Mauerbaus im August 1961. Vor 30 Jahren, am 8. Oktober 1992, verstarb der Ausnahmepolitiker.
Geboren am 18. Dezember 1913 mit dem Namen Herbert Frahm, wächst der Junge aus dem Lübecker Arbeitermilieu in turbulenten Zeiten auf. Bereits mit 16 Jahren wird er erstmalig Mitglied der SPD. Als seine schulischen Noten schlechter werden warnt ein Lehrer seine Mutter: „Halten Sie Ihren Sohn von der Politik fern. Der Junge hat gute Anlagen. Aber die Politik wird ihn ruinieren.“ Die Mahnung verhallt ungehört. Das Abitur legt der Gymnasiast 1932 dennoch ab.
Während der Diktatur durch die Nationalsozialisten leistet Herbert Frahm, der sich zum Selbstschutz fortan Willy Brandt nennt, Widerstand im Exil, ab 1933 zunächst in Norwegen, 1940 flieht er in das im Zweiten Weltkrieg neutrale Schweden. 1944 tritt Willy Brandt erneut der SPD bei, im Herbst 1945 kehrt er nach Deutschland zurück.
Wechsel in die Politik und allmählicher Aufstieg
Mittlerweile in Berlin ansässig wechselt Brandt 1948 in die Politik. Sein allmählicher Aufstieg in der Berliner SPD vollzieht sich vor dem Hintergrund des Kalten Krieges zwischen Ost und West. 1957 übernimmt Willy Brandt das Amt der Regierenden Bürgermeisters von Berlin. Er avanciert zum Liebling sowohl der inländischen wie auch der internationalen Presse- und Medienlandschaft. Das Wall Street Journal prophezeit dem aufstrebenden Brandt „eine glänzende Zukunft“. Einen gewichtigen Anteil an Brandts stetig wachsender Popularität hat nicht zuletzt der Springer Verlag, der Brandts politische Blitzkarriere wohlwollend medial begleitet und in seinen Zeitschriften mehrere Homestorys über dessen Familienleben mit Frau Rut und den gemeinsamen Söhnen veröffentlicht.
Im Jahr 1961 tritt Willy Brandt zum ersten Mal als Kanzlerkandidat der SPD an. Im politischen Wettbewerb zu seinem bereits 85-jährigen Konkurrenten Konrad Adenauer positioniert sich der „deutsche Kennedy“ als moderner Gegenentwurf zum greisen Unions-Kontrahenten – als junger, attraktiver Familienvater, telegen, sprach- und weltgewandt. Die SPD unterstützt die Strategie dieser „Charmeoffensive“; die Wahlplakate präsentieren Brandt als selbstbewussten, dynamischen sozialdemokratischen Hoffnungsträger, der sich nicht nur für das Kanzleramt, sondern vor allem für eine Erneuerung und einen überfälligen Generationenwechsel an der Spitze der Bundesrepublik stark macht.
Am 13. August 1961 überschlagen sich die Ereignisse
Doch in der Endphase des Wahlkampfs überschlagen sich die Ereignisse. Um die Massenabwanderung aus der DDR zu unterbinden, wird am 13. August 1961 mit sofortiger Wirkung die Berliner Sektorengrenze abgeriegelt. Die kommunistischen Machthaber ordnen an, eine Mauer um West-Berlin zu bauen. Über Nacht werden tausende Familien getrennt. Als Brandt am frühen Morgen des 13. August von der Grenzschließung erfährt, bricht er sofort seine Wahlkampfreise ab und fliegt nach Berlin. Der Errichtung von Absperrungen mitten durch die Stadt kann der Regierende Bürgermeister nur ohnmächtig zusehen.
Auch der Fotograf Robert Häusser (1924-2013) eilt angesichts der dramatischen Lage nach Berlin, um die Ereignisse vor Ort mit seiner Kamera festzuhalten. Am 16. August 1961 fotografiert er Willy Brandt im Zuge der Kundgebung gegen den Mauerbau vor dem Rathaus Schöneberg. In seiner wegweisenden Rede verurteilt Brandt die Grenzschließung scharf und fordert den Westen auf, dem Mauerbau nicht tatenlos zuzusehen. An die DDR-Grenzsoldaten appelliert er, Menschlichkeit zu zeigen und nicht auf die eigenen Landsleute zu schießen.
Häusser-Fotos dokumentieren Dramatik des Mauerbaus
Die beiden Aufnahmen, die Robert Häusser an jenem Tag von Willy Brandt macht, dokumentieren die Dramatik dieser Tage. Es sind zugleich zwei tiefenpsychologische Momentaufnahmen, die dem Betrachter einen Einblick in die fassungslose Seelenlage des damaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin geben, der ohnmächtig zusehen muss, wie Stacheldrahtverhaue und Steinwälle durch „seine Stadt“ gezogen werden. Brandt wirkt zutiefst erschüttert, angespannt und erschöpft. Tiefe Falten überziehen seine Stirn, dunkle Augenringe zeugen neben seiner Bestürzung vom Schlafmangel der letzten drei Tage und Nächte. Mit angewinkelten Knien sitzt der in Anzug und Krawatte gekleidete Staatsmann gar nicht staatsmännisch auf einer Stufe, einem Podest oder einer anderen niedrigen Sitzgelegenheit. In seiner rechten Hand hält er ein Blatt Papier, das auf der ihm zugewandten Seite engzeilig beschrieben ist. Während der passionierte Raucher auf der einen Aufnahme einen Zigarillo in seiner Linken hält, stützt er auf der zweiten Fotografie seinen Kopf auf, seinen Blick gedankenverloren in die Ferne gerichtet – ganz so, als überdenke er die gelesenen Zeilen in seiner Hand. Beide Aufnahmen zeigen Brandt in Untersicht, auf einer der beiden Aufnahmen sind im Hintergrund schemenhaft die symbolträchtigen Worte „Für Berlin“ eines in weißen Lettern gesetzten Schriftzugs zu lesen.
Herausragende politische Karriere
Brandt gewinnt durch sein Handeln in den Wirren der Berlin-Krise – die als erstes „Fernsehereignis“ in der Geschichte Deutschlands gilt – weiter an politischer Gestalt und profiliert sich als überparteilicher Kämpfer für die Freiheit. Die Wahl zum Bundeskanzler nur wenige Wochen später, am 17. September, verliert er dennoch. Erst im dritten Anlauf wird Willy Brandt 1969 zum ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler der BRD gewählt.
In der politischen Karriere Willy Brandts folgen zahlreiche herausragende Ereignisse, so die Unterzeichnung des Moskauer Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion am 12. August 1970, der als erstes bedeutendes Dokument der Entspannungspolitik in die Geschichte eingeht. Zu einem politischen Jahrhundertereignis wird wenige Monate später Willy Brandts symbolträchtiger Kniefall am Mahnmal des Warschauer Ghetto-Aufstandes von 1943 im Rahmen der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags. Das Bild des knienden Staatsmannes, der mit seiner Geste stumme Abbitte für die im Namen Deutschlands verübten Gräuel während des "Dritten Reiches" leistet, geht um die Welt und unterstreicht die Willy Brandt vielfach zugeschriebene Fähigkeit, Menschen emotional anzusprechen und für alle erkennbare Zeichen zu setzen.
Neugierig geworden?
Mehr über Robert Häusser und sein Werk erfahren Sie auf den Seiten des Forums Internationale Photographie.
Um ein ganz besonderes Häusser-Foto dreht es sich in unserem Video-Podcast zum Thema "Fotografie und Entschleunigung"