Alison Gernsheim – Pionierin der Fotogeschichte

Alison Gernsheim (1911-1969) baute mit ihrem Mann Helmut eine der weltweit bedeutendsten Foto-Sammlungen auf. Sie teilten eine gemeinsame Leidenschaft und die Arbeit. Außerdem vollbrachte Alison auf eigenen Forschungsfeldern Pionierleistungen. Es ist an der Zeit, den Scheinwerfer auf sie zu richten.

Alison Gernsheim wurde am 10. Februar 1911 als Alison Mary Eames im Londoner Stadtbezirk Upper Norwood geboren. Im Sommer 1938 traf sie zum ersten Mal Helmut Gernsheim, der aufgrund seiner halbjüdischen Wurzeln nach England emigriert war. Die Hochzeit mit dem zwei Jahre jüngeren deutschen Fotografen am 9. März 1945 war zugleich der Startschuss für ihre aufsehenerregende Karriere als eine der ersten Fotohistorikerinnen überhaupt.

Geteilte Leidenschaft für Fotografie

Über einen Zeitraum von einem Vierteljahrhundert haben Alison und Helmut Gernsheim eine der weltweit bedeutendsten Sammlungen historischer Fotografie aufgebaut. Diese herausragende Forschungsleistung wäre wohl nie zu bewältigen gewesen, wenn die beiden Eheleute nicht in kongenialer Weise als Sammler, Historiker, Autoren, Kuratoren und Förderer zusammengearbeitet hätten. Die entscheidende Rolle, die Alison Gernsheim als Mitstreiterin in diesem außergewöhnlichen „collecting couple“ gespielt hat, ist bis dato nur unzureichend gewürdigt worden. Eine Publikation über Alison Gernsheim ist noch ein Forschungsdesiderat.

Arbeitsteilung als Erfolgsrezept

Das Erfolgsrezept ihrer gemeinsamen Sammlungstätigkeit basierte von Anfang an auf einer Arbeitsteilung, die die individuellen Interessen und Fähigkeiten der beiden Eheleute optimal miteinander verband – eine Vorgehensweise, die sich über die Jahre als äußerst produktiv erweisen sollte. Als gelernte Sekretärin beherrschte Alison außer Stenografie auch das Zehn-Finger-Schreibmaschineschreiben. Neben Deutsch und Französisch, dass sie fließend sprach, verfügte sie zudem über Lateinkenntnisse, wodurch ihr die Recherche und Sichtung fremdsprachiger Literatur und Texte oblag.

Für das eheliche Zusammenleben blieb Alisons Mitarbeit an der Gernsheim-Sammlung nicht ohne Konsequenzen und führte im Hause Gernsheim zu einer für die damalige Zeit ungewöhnlich emanzipatorischen innerhäuslichen Arbeitsaufteilung: während Alison sich voll und ganz der Büroarbeit widmete, erledigte Helmut die anfallenden häuslichen Pflichten, besorgte den Einkauf und übernahm das Kochen.

Zwischen Reifrock und Tumor: Eigene Forschungsfelder

Seit den 1960er-Jahren widmete sich Alison zunehmend eigenen Projekten und Sachgebieten. Die Auswahl ihrer Forschungsfelder hätte dabei unterschiedlicher nicht sein können: auf der einen Seite richtete sie ihr Interesse auf die Modefotografie der Viktorianischen Epoche und deren sozio-historische Funktion, auf der anderen Seite war sie fasziniert von den Anfängen der medizinischen Fotografie dieser Zeit. Damit bewegte sie sich motivisch in einem Spannungsfeld zwischen den Vertretern des britischen Hochadels und Großbürgertums in ihren opulenten Reifröcken und eleganten Anzügen auf der einen und durch Tumore entstellte Patientenrücken und klaffenden Operationswunden auf der anderen Seite. Ihre Forschungen zu beiden Spezialgebieten stellen Pionierleistungen dar.

Ihr 1961 in der Publikationsreihe der British Medical Society veröffentlichter Aufsatz "Medical Photography in the Nineteenth Century" gilt bis heute als die erste umfassende Darstellung dieser Thematik. Der inhaltliche Aufbau ihres Artikels beleuchtet die Entwicklung der medizinischen Fotografie und ihre frühen Versuche, sich die Technik des neuen Mediums für die wissenschaftliche Forschung zu eigen zu machen.

Mit der Herausgabe ihres Buches "Fashion and Reality (1840-1914)" im Jahre 1963 betrat Alison auf dem Gebiet der Modeforschung ein weiteres Mal wissenschaftliches Neuland. Indem sie ihren Ausführungen zur Damen- und Herrenmode der Viktorianischen Ära zahlreiche zeitgenössische Fotografien als Vergleichsmomente gegenüberstellte, machte sie nicht nur deren stilistische Besonderheiten auf der Ebene der Fotografie erfahrbar, sondern schuf gleichzeitig einen überzeugenden Referenzrahmen, an dem sich nun unzweifelhaft überprüfen ließ, ob das, was man bis zu diesem Zeitpunkt gemeinhin als zeittypische Mode annahm und was die idealisierten Modeillustrationen und Gemälde aus dieser Zeit suggerierten, auch tatsächlich der Realität entsprach. Die Indikatorfunktion von Fotografien wurde erstmalig von Alison in diesem Kontext genutzt; die Resonanz der internationalen Presse- und Fachpresse war dementsprechend enorm.

Alison Gernsheim – Eine große Fotohistorikerin

Die gemeinsame Arbeit der Gernsheims fand ein tragisches Ende mit Alisons Tod am 27. März 1969, im Alter von gerade einmal 58 Jahren. Als Todesursache wurde später eine Embolie in Folge einer bei einem Sturz zugezogenen komplizierten Fraktur des rechten Oberarms diagnostiziert. Die Fachwelt reagierte bestürzt auf Ihren Tod. Am 7. April 1969 erschien ein Nachruf in der "The Times", der ausführlich ihre Verdienste beim Aufbau der Gernsheim-Sammlung, ihre Rolle als Mitherausgeberin wegweisender Publikationen zur Fotografiegeschichte sowie ihre eigene wissenschaftliche Forschungsarbeit herausstellte. Für Helmut war ihr Tod ein kaum zu verkraftender Verlust. Mit ihr hatte er nicht nur seine geliebte Ehefrau, sondern nach 31jähriger Zusammenarbeit auch seine geistige und seelische Weggefährtin verloren.

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