Scherben aus einem Latrinenfund unter der Mannheimer Spitalkirche

Bei Grabungen unter der Mannheimer Spitalkirche wurden zahlreiche Funde aus der Kurfürstenzeit entdeckt. Dabei kamen in einer Latrine auch viele verschiedene Glasscherben zum Vorschein. Daraus konnten unter anderem zwei Humpen rekonstruiert werden. Erfahren Sie  –  passend zum Internationalen Jahr des Glases 2022 – mehr über die Glasherstellung der damaligen Zeit.

Die archäologische Denkmalpflege an den Reiss-Engelhorn-Museen führte 2011 Grabungen im Innern der Mannheimer Spitalkirche in E6, 1 durch. Zwei Wochen lang wurden unter der Leitung von Dr. Klaus Wirth Schächte und Fundamente freigelegt und untersucht.

Die zahlreichen Funde aus einer ca. 40 Quadratmeter fassenden Latrine stammen alle aus dem 17. und 18. Jahrhundert – aus der Zeit vor 1786, denn damals wurde mit der Errichtung des Gotteshauses begonnen. Neben Keramik- und Porzellanfragmenten bester Manufakturen befanden sich in einer mit sortiertem Bauschutt aufgefüllten Latrine vielerlei Scherben aus Glas.

Aus Scherben werden Humpen

Einige dieser Glasscherben konnten aufgrund ihrer auffälligen Musterung als zusammen gehörig identifiziert werden. Nach dem sorgfältigen Zusammenfügen aller Teilchen entstand ein großes Ganzes neu – genauer zwei immer noch fragmentierte, aber deutlich erkennbare, walzenförmig Krüge. Die restauratorische Bearbeitung erfolgte durch Anna Ziegler, die damals im 2. Semester an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart studierte.

Das wichtigste Formenmerkmal dieser Humpen ist ihr zylindrischer Körper, ein abgesetzter Standring sowie der ohrenförmige Henkel. Letzterer ist am oberen Ende auf der Oberseite leicht eingedrückt. Solche Vertiefungen dienten meist dazu, einen Scharnierdeckel mit Daumenrast aus Zinn zu befestigen. Möglicherweise wurden die Henkel für Deckelanbringungen vorbereitet, ohne dass diese immer auch vorhanden sein mussten. Vergleichsbeispiele haben sich überwiegend ohne Deckel erhalten. Die walzenförmigen Humpen in unterschiedlichen Größen haben einen zweifach gewickelten Standring. Diese und die Henkel mit eingerolltem Ende sind aus leicht opalisierendem Milchglas, der Korpus besteht aus verziertem Milchglas.

Milchglas als Basis

Die Entstehung von Milchglas ist dem Verlangen zu verdanken, asiatisches Porzellan zu imitieren. Von chinesischem Porzellan, dessen Kunde erstmals Marco Polo (1254 – 1324) in den Westen brachte, ging eine solche Exotik aus, dass es an europäischen Höfen begeistert gesammelt wurde. Damit einher ging der Wunsch, auch in Europa Porzellanmasse zu produzieren. Frühe europäische Experimente zur Herstellung von Porzellan waren stark mit der Glasherstellung verbunden, basierend auf dem langjährigen Missverständnis, dass chinesisches Hartporzellan wohl ein glasiges Material sei.

Bereits im 14. Jahrhundert soll in Murano Milchglas (lattimo) hergestellt worden sein, dessen Erscheinung Porzellan ähnlich ist. Bevor die Europäer im 18. Jahrhundert lernten, ihr eigenes Porzellan herzustellen, war dieses reich verzierte, milchige Muranoglas, das wie Porzellan aussah, fast drei Jahrhunderte lang in europäischen Speisesälen höchst begehrt. Die opake Masse war so beliebt, dass sich die Produktion des Lattimos trotz strenger Gesetze in Bezug auf Geschäftsgeheimnisse der Glasherstellung über Murano hinaus in Böhmen, Frankreich, Deutschland, Spanien und England verbreitete. Auch nach der Entdeckung der Porzellanrezeptur 1708 in Dresden wurde Milchglas weiter hergestellt. Um das opake Glas zu erhalten, färbte man durch Beimengung von trübenden Zutaten – etwa Knochenasche – die transparente Glasmasse ein.

Auffällige Musterung – Entstehung und Herkunft des Dekors

Charakteristisch für die Krüge ist ihre Dekoration in Form bunter Flecken auf der Außenwandung. Für diese auffällige Zierde wurde eine Glasblase aus opak-weißem Glas in blauen und manganroten Glaskrümeln –  sogenannte Krösel – gewälzt. Wiederholtes Aufwärmen und Aufblasen integrierte die farbigen Stücke fast völlig in die Oberfläche. Dabei entstand der interessante, marmorartige Effekt. Zudem wurden bei den vorliegenden Exemplaren die eingeschmolzenen Krösel an einigen Stellen gekämmt und erscheinen somit als Fiedermuster in größerer Dichte. Vielleicht wollte man durch das flächendeckende Dekor eventuell vorhandene, kleine Verunreinigungen der Glasmasse – etwa durch Flugasche – kaschieren.

Genaue Untersuchungen im Rahmen der Rekonstruktion erbrachten, dass der Korpus jeweils aus zwei Zylindern besteht, bei denen nur der äußere mit Kröseln bedeckt ist. Über eine zweite, neutral weiße Glasblase wurde mit der aufgeschnittenen, farbig dekorierten Glasblase überfangen. Beide Zylinder sind frei geblasen, der Boden ist jeweils spitz aufgezogenen.

In diesem Dekor klingt möglicherweise ein Verfahren nach, das im 15. Jahrhundert in Murano aufkam. Undurchsichtiges Glas war in Venedig seit der Renaissance beliebt, da es als Calcedonio harten Stein imitierte. Bei diesen sogenannten Steingläsern  – auch Achatglas, Jaspis- oder Onyxglas – entsteht durch das Kneten verschiedener Farbgläser eine inhomogene Schmelze in starker Ähnlichkeit zu Halbedelsteinen. Unter Umständen sind Gläser mit gefleckter Oberfläche in dieser Tradition zu sehen, wobei sie aber weitaus schneller, da einfacher und zudem günstig anzufertigen waren. Bestellungen wie die eines Engländers im Jahr 1640 an einen venezianischen Händler über „1 doz. speckeled enamel’d covered beer glases“ (1 Dutzend Biergläser mit Deckel aus weißer opaker Glasmasse mit gefleckter Oberfläche) können als Hinweise gewertet werden, dass sich diese Dekorationstechnik für Gebrauchsglas bereits im 17. Jahrhundert behauptet hatte. Neben Venedig ist das Dekor in vielen weiteren Glaszentren belegt. Die Formen der erhaltenen Stücke sind von europäischer Keramik – etwa Humpen, Krüge – oder asiatischen Porzellanvorbildern – etwa Koppchen – adaptiert.

Herkunft und Datierung

Die Provenienz der Humpen ist nicht mit letzter Sicherheit zu bestimmen, da derartig dekorierte Glasware in vielen Glaszentren vor allem in Süddeutschland oder der Schweiz hergestellt wurde. Funde in der Schweizer Glashütte Flühli (Kanton Luzern), die von 1723 bis 1869 produzierte, hatten dazu geführt, für alle Milchgläser, die mit farbigen Flecken versehen sind, eine Herkunft aus der Schweiz anzunehmen. Doch auch andere Hütten haben diese Verzierung aufgenommen, zumal sie einfach und günstig ist. Die farbige, grob gemahlene Glasmasse, die dazu benötigt wurde, lässt sich gut transportieren und ist daher überall verfügbar.

Opak-weiße Gläser mit gefleckter Dekoration waren bereits im 17. Jahrhundert ziemlich bekannt und haben sich über das 18. Jahrhundert hinweg nachweisen lassen. Die hier vorgestellten Funde stammen aus einem Latrinenschacht, der mit den Resten einer Ausstattung eines großbürgerlichen oder adligen Haushaltes sowie Bauschutt aufgefüllt worden war, nachdem man ein an dieser Stelle stehendes Wohnhaus komplett entfernt und den Platz für den Bau der Spitalkirche (Altarweihe 1788) vorbereitet hatte. Eine Datierung ins 18.  Jahrhundert – noch vor 1786 – ist daher anzunehmen. Eine genauere Einordnung ist derzeit nicht möglich.

Es handelt sich hier um vergleichsweise einfache Walzenkrüge, die neben Bechern, Tassen oder Krügen als Massenware für den gehobenen Haushalt zum Alltagsgebrauch hergestellt wurden. Mittels Glasträger gelangten diese vom Produktionsort über größere Strecken hinweg zum Verkauf in angrenzende Regionen. Denkbar für die Herkunft beider Krüge wäre neben der bereits genannten Schweizer Herstellungsstätte auch der Schwarzwald. Humpen als Trinkgefäße sind seit dem 16. Jahrhundert gebräuchlich und dienten überwiegend zum Genuss von Bier. Neben Glas wurden sie vor allem in Keramik oder Fayence hergestellt.

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2022 ist das Internationale Jahr des Glases. Im rem-Blog widmen sich mehrere Beiträge diesem außergewöhnlichen Material. Lesen Sie mehr zur Verwendung von Glas im alten Ägypten und über Glasperlen im frühen Mittelalter.

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