Wilder Wein – eine neue Pflanze umschlingt Glasobjekte

In der Ausstellung „Streifzüge durch die Natur“ lassen sich die unterschiedlichsten Pflanzen als Dekore auf gläsernen Objekten aus dem Jugendstil entdecken. Wir kennen sie aus der freien Natur, aus Gärten oder als Zimmerpflanzen. Sie sind heute so selbstverständlich, dass man annimmt, sie waren schon immer vorhanden. Viele dieser alltäglich gewordenen Pflanzen sind jedoch erst seit wenigen Jahrhunderten in Europa verbreitet. Sie stammen aus fernen Ländern und waren lukrative Beute von Pflanzenjägern. Auf den Spuren des Wilden Weins geht es nach Nordamerika und Ostasien.

Exotische Pflanzen als Statussymbol

Forschungsreisende brachten ab dem 17. Jahrhundert Nutz- und Zierpflanzen aus Asien, Australien und Amerika nach Europa. Dort wurden sie in Botanischen Gärten oder Gärtnereien erfasst, gepflegt und erforscht und gelangten erst viel später in Gärten oder als Zimmerpflanzen in die Häuser. Zunächst waren exotische Pflanzen höchstens der wohlhabenden Elite vorbehalten, die ihre Zitrusbäumchen und bunten Pelargonien in Orangerien zur Schau stellte. Im 19. Jahrhundert änderte sich das, als das erstarkende Bürgertum vermehrt begann, Pflanzenneuheiten aus fernen Ländern zu verlangen.

Ausgefallenes Grün wurde gesammelt und zur Schau gestellt. Wer ostasiatische, tropische oder exotische Zimmer- oder Gartenpflanzen sammelte, der konnte sich auch den damit verbundenen finanziellen und zeitlichen Aufwand leisten, die Pflanzen wurden regelrecht zum Statussymbol. Exotengärtnereien entstanden, um die hohe Nachfrage nach ausgefallener Vegetation zu bedienen. Große Züchtereien schickten v.a. ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ihre sogenannten Pflanzenjäger oder Pflanzensammler auf ausgedehnte Fernreisen auf der Suche nach exklusiven Blüten und Blättern. Möglichst bunt sollten sie sein, aber auch robust und leicht vermehrbar.

Wilder Wein kommt nach Europa

Ein prächtiges Beispiel für die Übernahme solcher Pflanzen aus fernen Regionen ist immer wieder auf der Glaskunst des Jugendstils zu sehen. Dabei handelt es sich um den Wilden Wein, der auch unter dem Namen Jungfernrebe, Mauerwein oder Zaunrebe bekannt ist. Im Frühjahr zeigt der Wilde Wein unauffällige Blüten. Im Herbst bringt die Kletterpflanze mit ihrem roten Laub Zäune, Hauswände oder Mauern zum Leuchten. Die anfangs grüngelben Blätter färben sich langsam orange und wechseln schließlich zu einem intensiven Rot. Die schwarzen Beeren gelten unter Vögeln als begehrter Leckerbissen. Für Menschen sind die runden Früchte, die an kleine Trauben erinnern, wegen ihres hohen Oxalsäuregehalts allerdings ungenießbar. Aufgrund des Namens, aber auch durch die Ähnlichkeit zur Weinrebe wird die Pflanze bis heute oft irrtümlich für die Wildform der Tafeltraube gehalten. Obwohl miteinander verwandt, handelt es sich hierbei um zwei verschiedene Gattungen.

Selbstkletternde Jungfernrebe aus Nordamerika

Der Wilde Wein war lange uneinheitlich bezeichnet. Erst um 1887 gaben Botaniker ihm und seinen Verwandten den Gattungsnamen Parthenocissus, Jungfernrebe. Von den 15 bekannten Arten waren um 1900 vor allem zwei verbreitet. Beide sind auf Jugendstilglas zu finden. Da wäre zunächst die Selbstkletternde Jungfernrebe (Parthenocissus quinquefolia) zu nennen, die ursprünglich aus Nordamerika stammt. Das Laub dieser fünflappigen Sorte (quinquefolia = lat. fünfblättrig) setzt sich aus fünf einzelnen Teilen bzw. Blättern zusammen. Mittels ihrer Haftscheiben findet sie auf vielen Flächen, etwa Mauern, festen Halt.

Um 1610 gelangte der Kletterkünstler nach Europa und war kurz darauf in Gärten in England und Frankreich anzutreffen. Nach und nach breitete sich der Nordamerikanische Wilde Wein in ganz Europa aus. 1663 ist der „fünfblättrige Weinstock aus America“ in den kurfürstlichen Gärten in und um Berlin, 1675 in Leipzig und 1711 in Wittenberg verzeichnet. Ende des 18. Jahrhunderts bereicherte die Pflanze das Angebot von Baumschulen in Hamburg und Berlin. Vielfache Verwendung fand das rankende Grün in den damals modischen Landschaftsgärten, wo es beispielsweise die dort erbauten Ruinen überwucherte.

Exot aus Ostasien

Neben der fünfblättrigen Sorte verbreitete sich nach der Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa – also nur wenige Jahrzehnte vor der Entstehung der in der Ausstellung gezeigten Glasgefäße – auch der dreilappige Wilde Wein (Parthenocissus tricuspidata), der aus den Bergwäldern Ostasiens stammt. Sein Hauptmerkmal sind die rundlichen Blätter, die in drei typischen Spitzen auslaufen. Er ist in vielen Städten, Gärten und Parkanlagen verbreitet und begrünt breite Flächen, an denen er mittels Haftscheiben hochrankt.

Lukratives Geschäft für Pflanzenjäger

Das britische Unternehmen Veitch & Sons, im 19. Jahrhundert die größte Gärtnerei und Baumschule Europas, schickte zwischen 1840 und 1910 22 Pflanzenjäger in ferne, schwer zugänglichen Länder auf die Suche nach exotischen Pflanzen. 1.281 neue Pflanzenarten wurden durch Veitch Nurseries im genannten Zeitraum in die Kultur gebracht, darunter Orchideen, Farne, Nadel- und Laubbäume und immergrüne und Klettersträucher. Sie verbreiteten diese gewinnbringend in England und Europa und stillten den unersättlichen Appetit nach neuen, ausländischen Pflanzen. Unter den Pflanzensammlern befand sich auch John Gould Veitch, ein Urenkel des aus Schottland stammenden Firmengründers. Er reiste 1860 im Alter von 21 Jahren zu Studienzwecken nach Japan, entschlossen, neue und exotische Pflanzen nach England zu bringen. Da seine Bewegungsfreiheit innerhalb Japans stark eingeschränkt war, begann er damit, Pflanzen von den Besitzern privater Gärten zu sammeln. Bald darauf erhielt er eine Einladung des japanischen Generalkonsuls, an der ersten britischen Besteigung des Fuji teilzunehmen, bei der er als Erster wertvolle Samen und Zapfen aus dortigen Nadelbäumen für kommerzielle Zwecke sammelte.

In Japan entdeckte er auch den farbenfrohen Wilden Wein und brachte Samen nach England. Zunächst wurde die Pflanze von der Baumschule Veitch & Sons unter dem Namen Amelopsis veitchii als eigene Art in England in den Handel gebracht. Aus Amelopsis veitchii wurde später die Sorte Parthenocissus tricuspidata „Veitchii“. In England war die seit 1868 vertriebene Pflanze von Anfang an ein Verkaufsschlager und verbreitete sich wenig später auch auf dem europäischen Kontinent.

Veitch & Sons waren jedoch nicht die einzigen, die diese Art dort bekannt machten. Um 1863 brachte der in Würzburg geborene Arzt und Gelehrte Philipp Franz von Siebold ebenfalls die dreilappige Weinrebe unter der Bezeichnung „Ampelosis tricuspidata“ aus Japan in die Niederlande, von wo die Zierpflanze weite Verbreitung erlangte. Zusammen mit dem Münchner Botaniker Joseph Gerhard Zuccarini beschrieb er all jene Pflanzen, die er während seiner beiden Japanaufenthalte (1823-29 und 1859-63) als Arzt im Königlich Niederländischem Dienst zusammengetragen hatte. Durch Veröffentlichungen dieser wissenschaftlichen Arbeiten wurde die neuen Pflanzen erstmalig weltweit bekannt gemacht. Aber nicht nur die Floristik und Systematische Botanik, sondern auch die Kunst erfuhren dadurch eine große Bereicherung.

Die Natur als Inspirationsquelle

Beide Varianten der Jungfernrebe sind äußerst detailgetreu auf vielen Glasvasen des Jugendstils wiedergegeben. Das reiche Farbspiel der Blätter sowie die schönen Blattformen trugen sicherlich zur Popularität der Kletterpflanze bei. Doch dahinter steckt weit mehr: Vor allem im französischen Art Nouveau fanden sich Künstler, Handwerker und Kleinindustrielle zu einem Thema zusammen, das sie inspirierte: die Natur. Fernöstliche Vegetation in äußerst natürlicher Darstellung fand Eingang in die Glaskunst. Auch Pflanzen, die bis dahin von künstlerischer Seite eher weniger oder gar nicht zur Kenntnis genommen wurden, wurden nun häufig genutzte Motive. In nie dagewesenem Umfang bildeten die Glaskünstler*innen ebenso viele neu erforschte Pflanzenarten ab.

Allen voran ist Émile Gallé aus Nancy zu nennen, der unter dem Einfluss des Japonismus und der eigenen naturwissenschaftlichen Ausbildung Flora und Fauna zum Leitmotiv seiner Kunst auserwählt hatte. Die Werke „Flore de France“ und „Flore de Lorraine“ seines Botaniklehrers Prof. Dr. Godron, der auch den botanischen Garten in Nancy leitete, inspirierten ihn zu seinen Darstellungen. Der Katalog einer japanischen Blumenschau auf der Weltausstellung in Paris 1889 sowie ein Tafelwerk mit japanischer Vegetation, das der mit Gallé befreundete Japaner Tokuso Takasima, der an der Ecole Forestière in Nancy studierte, herausgebracht hatte, trugen zudem zur Kenntnis exotischer Pflanzen bei.

Neben Modeblumen wie Orchideen oder Hortensien wurden aus formalen Gründen gerne sich windende Pflanzen aufgenommen, die sich der bewegten Linienführung des Jugendstils selbstverständlich anpassten. Dazu zählten Schlingpflanzen und Rankengewächse, wie Efeu, Wicken, Clematis, Glyzine oder Wilder Wein. Letztgenannte Kletterpflanze, die um 1900 noch recht neu in Europa war, windet sich in naturgetreuem Wachstum um zahlreiche Gläser Gallés, Daum Frères und ihrer Zeitgenossen, auch weit über Frankreich hinaus.

Neugierig geworden?

Gläserne Kostbarkeiten aus dem Jugenstil können Sie noch bis 30. Juni 2024 in der Sonderausstellung Streifzüge durch die Natur bewundern.

Glas ist ein überaus facettenreiches Material. Erfahren Sie in unserer Blog-Reihe mehr über die Verwendung von Glas in verschiedenen Epochen.