Fotografische Hommage an die Pariser Banlieues
„Die Fotografie hat mich gefunden“, so resümiert Jean-Michel Landon seinen Werdegang zum Fotografen. Geboren 1978 in Créteil, in der südöstlichen Banlieue von Paris, bewegt er sich zunächst als Jugendlicher, später als Sozialarbeiter und heute als Fotograf im Slalom zwischen den verschiedenen Vierteln seiner Heimatstadt. Mit seinem Erstlingswerk „La vie des blocs“ gibt der Autodidakt intime Einblicke in die pluralistische und komplexe Lebenswelt der Pariser Vorstadt: ungeschönt und ungefiltert, aber immer erfüllt von dem Respekt und der Empathie des Eingeweihten. Durch ihre emotionale Teilnahme stehen seine Fotografien in Tradition der „Photographie humaniste“ eines Willy Ronis, Robert Doisneau oder Edouard Boubat, denen sich Landon mit seiner Arbeit eng verbunden fühlt.
Begonnen 2011 dokumentiert Landons Reportage „La vie des blocs« die urbanen und sozialen Umwälzungen in den Pariser Vororten infolge ehrgeiziger staatlicher Stadtplanungsoffensiven und Verkehrsprojekte. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen im Herbst 2005 zwischen der Polizei und der Jugend in vielen Banlieues haben das Land erschüttert und zu einem politischen Umdenken geführt. Unter dem Namen „Grand Paris Express“ wurde mit dem Ziel einer besseren Anbindung der Vorstädte an die Metropole ein über 200 Streckenkilometer erweitertes Metronetz entwickelt. Gleichzeitig wurde der Abriss der ehemaligen Arbeiterwohnviertel, die im Zuge des sozialen Wohnungsbaus seit Ende der 1950er entstanden waren, beschlossen. Die alten Wohnblöcke wurden niedergerissen; auf ihren Fundamenten entstand neuer, hochwertiger Wohnraum. Zwar bekamen die Vorstädte ein modernes Gesicht. Doch die sozioökonomischen Probleme blieben bestehen und verschärften sich sogar.
Als Jean-Michel Landon 2011 während seiner Tätigkeit als Sozialarbeiter im Stadtbezirk Petit Pré-Sablières von den bevorstehenden Abrissarbeiten auch dieses Wohnviertels erfährt, beginnt er, Interviews mit den Bewohnerinnen und Bewohnern zu führen. Zunächst geht es ihm vor allem darum, die vielen persönlichen Geschichten vor dem Vergessen zu bewahren. Seine Begegnungen hält er mit der Kamera fest. Angeregt durch die Menschen, die er fotografiert und die sich selbst wie auch das Leben in ihrem Viertel in seinen Aufnahmen authentisch widergespiegelt sehen, wird die Kamera schließlich zu seinem zentralen Ausdrucksmittel. Dabei fotografiert er von Anfang nur in schwarz-weiß, da er befürchtet „(…) sich in der Farbfotografie eher zu verlieren.“
In Petit Pré-Sablières entstehen die ersten beiden Serien „Zwischen den Blöcken“ und „Ein Sommer in der Stadt“. Sein sensibler Blick gilt hier vor allem den Kindern. Er ist fasziniert von ihrer Unbefangenheit, Ausgelassenheit, ihrem ungestümen Bewegungsdrang. Sobald sie ihre Neugierde überwunden haben, achten sie nicht mehr auf ihn und seine Kamera. Zugleich werden die Kinder des Viertels zu Botschaftern für eine der wesentlichen Aussagen, die Jean-Michel Landon durch seine Fotografien vermitteln möchte: „Nichts unterscheidet uns, außer dem sozialen Umfeld. Ein Kind bleibt ein Kind. Erst wenn man älter wird, beginnt man, die Unterschiede zu markieren.“
Zudem dokumentieren viele der Aufnahmen eine gelebte Solidarität unter den Bewohnerinnen und Bewohnern, wie sie für das Leben in Vorstädten wie Petit Pré-Sablières charakteristisch war. Schon aufgrund ihrer baulichen Geschlossenheit funktionierten die Wohnblöcke und Straßenzüge als gesellschaftlich in sich geschlossener Mikrokosmos. „Das Leben der Bewohner in den Gebäuden war alles andere als einfach. Aber der ‚Gemeinschaftsgeist‘, der sich aus der Abgeschlossenheit des Viertels – ohne Durchgangsstraße und von Umgehungsstraßen umgeben – entstand, formten ein Miteinander“, so beschreibt es Jean-Michel Landon.
Mit der Bildserie „Im Schatten der Türme“ setzt Jean-Michel Landon im Stadtviertel L’Echat seine Arbeit bis 2022 fort. In ihrer Bildsprache unterscheiden sich die Aufnahmen dieses weiteren Teils von den beiden vorherigen. In einer oft dunklen Tonalität und in stärkeren helldunkel Kontrasten fokussieren die Fotografien stärker die Schattenseiten des Lebens im Viertel. Die Fotografien aus L’Echat erzählen von Tristesse, Perspektivlosigkeit und dem statischen Leben einer jungen Generation, die auf der Strecke geblieben, geradezu vergessen ist. Ihr Übermaß an freier Zeit verbringen sie auf der Straße, es wird geraucht und über eine vage Zukunft diskutiert. Konflikte mit der Polizei stehen auf der Tagesordnung, Drogen werden konsumiert und gehandelt.
Um als Fotograf Zugang zu diesen Situationen zu bekommen, bedarf es Vertrauen. Jean-Michel Landon hört den Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu, nimmt ihre Sorgen und Nöte ernst und verbringt Tage und manchmal auch Nächte mit ihnen. Nicht selten wird er für sie zu einem „großen Bruder“, der ihnen jene Aufmerksamkeit schenkt, die sie seitens der sozialstaatlichen Sicherungssysteme oft nicht erhalten.
Den letztentstandenen Teil seiner Reportage, den Jean-Michel Landon in Anlehnung an die Harry-Potter-Saga „Nokturngasse“ nennt, berichtet vom alltäglichen Leben in einer Seitenstraße im Viertel L‘ Échat. Viele Jugendliche halten sich gerne in der zugigen Gasse auf, die das Viertel in zwei Bereiche teilt – auf der einen Seite sozialer Wohnungsbau, auf der gegenüberliegenden Seite Eigentumswohnungen. Für den Fotografen hat diese Straße, durch die sich manche wegen des Lärms und der Jugendlichen nicht getrauen durchzugehen, etwas Symbolisches: Zwischen den hohen Mauern treffen zwei soziale Welten aufeinander, die sich ansonsten nicht oder nur selten begegnen.
Über zehn Jahre benötigt Jean-Michel Landon, um den beiden Stadtvierteln und seinen Bewohnern ein fotografisches Denkmal zu setzen. Er hält Augenblicke des Lebens fest, um seine Botschaft an diejenigen weiterzugeben, die nicht sehen können oder wollen. So ist „La vie des blocs“ sowohl Hommage als auch fotografische Erinnerungsarbeit an eine Welt, deren wahres Wesen oft verkannt wird und deren architektonische Spuren im Zuge staatlicher Stadterneuerungsprojekte allmählich verschwinden. Die Ausstellung wird in der Galerie ZEPHYR der Reiss-Engelhorn-Museen erstmalig in einer umfassenden Einzelausstellung außerhalb Frankreichs präsentiert.
Neugierig geworden?
Die Sonderausstellung „La vie des blocs“ ist noch bis 30. Juni 2024 in unserer Galerie ZEPHYR zu sehen.
Mehr zur Ausstellung
Ein Video gewährt einen Einblick in die Ausstellung „La vie des blocs“ – zu Wort kommen der Fotograf Jean-Michel Landon sowie die ZEPHYR-Leiterin und Kuratorin Stephanie Herrmann.