Vom Leben in den Banlieues

Jean-Michel Landons Fotografien gehen unter die Haut und regen zum Nachdenken an. In unvergleichlicher und berührender Weise fängt er in der Reportage „La vie des blocs“ das Leben in seiner Heimatgemeinde Créteil mit all seinen Facetten ein – zwischen Tristesse, Perspektivlosigkeit und Wut auf der einen und Lebensfreude und Solidarität auf der anderen Seite.

„Mein Interesse gilt eher den leisen Randerscheinungen, dem unspektakulär Alltäglichen des Lebens“, mit diesen Worten beschrieb der französische Fotograf Willy Ronis (1910-2009) im Vorwort des Ausstellungskatalogs zu seiner 1995 im Museum of Modern Art gezeigten Retrospektive seinen fotografischen Blick.

Ronis' Œuvre spiegelt diesen Fokus auf eindrucksvolle Weise wider. So unterschiedlich die Orte waren, an denen er fotografierte, seine Aufnahmen zeigen die Menschen vor allem in ihrem Alltag, bei Festen, in ihrer Freizeit. Stets begegnet er den Protagonisten seiner Fotografien mit Feingefühl, Milde und manchmal auch subtilem Humor. Sein 1954 erschienener Bildband „Belleville-Ménilmontant“, in dem er dem Lebensgefühl in den Gassen und Hinterhöfen des alten Pariser Arbeiterviertels nachspürt, zählt heute zu den Meilensteinen der in Frankreich seit den 1930er Jahren entstandenen Bewegung der „photographie humaniste“.

Jean-Michel Landon benennt Willy Ronis als einen jener humanistischen Fotografen, die ihn in seinem Werdegang zum Fotografen maßgeblich geprägt haben. Geboren 1977 in Créteil, einer Gemeinde in der südöstlichen Banlieue von Paris, berichtet der Sozialarbeiter und fotografische Autodidakt in seiner 2011 begonnen und über 10 Jahre fortgeschriebenen Reportage „La vie des blocs“ über das Leben der Menschen in seiner Heimatstadt. Die beiden Arbeiterviertel Petit-Pré-Sablières und L’Echat sind die Schauplätze seiner Aufnahmen. Hier begleitete er mit seiner Kamera den Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner fernab jeglicher Inszenierung. Es sind Momentaufnahmen, ungeschönt und mitunter befremdend, aber immer voller Respekt und Empathie für die Menschen seiner eigenen Lebenswelt.

Eine Welt im Wandel

In zeitlicher Perspektive berichten seine Aufnahmen von einer Welt, die infolge weitreichender staatlicher Stadterneuerungsprogramme einem massiven Wandel unterliegt. Die Häuserblöcke des sozialen Wohnungsbaus, errichtet seit den 1950er Jahren, weichen zunehmend Neubauten. Zwar bekommen die Vorstädte ein modernes Gesicht. Probleme wie soziale Segregation oder Gentrifizierung bleiben aber bestehen und verschärfen sich. So ist „La vie des blocs“ nicht nur eine fotografische Erinnerungsarbeit über das Leben und den Wandel seiner Heimatstadt Créteil, sondern auch eine Hommage an die Bewohnerinnen und Bewohner der Arbeiterviertel der Île-de-France.

Persönliche Begegnungen

Mit vielen seiner Aufnahmen verbinden sich persönliche Geschichten und Begegnungen. Eine dieser Fotografien zeigt den Jugendlichen Mamadou, der kleine Bruder eines engen Freundes. Mamadou ist neugierig, als Jean-Michel Landon seine Fotoausrüstung auf dem Tisch ablegt und das Objektiv an seiner Kamera wechselt. Unvermittelt schnappt sich der Teenager ein Objektiv und schaut hindurch. Im selben Augenblick entsteht das symbolisch aufgeladene Porträt Mamadous, der – so auch der Titel – in diesem Moment das Leben aus der richtigen, zumindest einer neuen Perspektive zu betrachten vermag.

Kleine Träumerin

Auch die „Kleine Träumerin“ scheint ganz in ihre Gedankenwelt versunken. Sie ist der Sonnenschein im Viertel L’Echat. Mit ihrer Mutter kommt sie öfters zum Spielen in die kleine Gasse, in der sich auch die Jugendlichen des Viertels treffen, um Musik zu hören, Shisha zu rauchen und gemeinsame ihr Übermaß an freier Zeit zu verbringen. Die Gedankenblase, die wolkenartig über dem Kopf der Träumerin aufgezogen zu sein scheint, hält der poetischen Verklärung bei genauerem Hinsehen nicht stand – es ist die nackte Wandfläche, die hinter dem abgeplatzten Putz des maroden Gebäudes zum Vorschein kommt. Und doch ist es ein Moment voller Unbedarftheit und kindlichem Zauber.

Die hohe Kunst des Grillens

In den Sommermonaten geht es in L’Echat und Petit-Pré-Sablières laut und lebhaft zu. Das Leben verlagert sich auf die Straßen und besonders die männlichen Bewohner treffen sich draußen vor den Wohnblöcken. Beinahe täglich wird gegrillt. Nicht auf modernen Hochleistungsgrills, sondern vielfach auf improvisierten Bratrosten wie einem längs aufgeschnittenen Stahlfass mit angeschweißten Stützen. Dass Essen ist dabei eher von untergeordneter Relevanz. Vielmehr ist das gemeinsame Grillen vor allem unter den jungen Männern symbolischer Ausdruck von Gemeinschaft, insbesondere vom Teilen untereinander. Die Erwachsenen legen zusammen und kaufen Fleisch, Brot und Kohle, um die Jüngeren daran teilhaben zu lassen. Als eine Art Initiationsritus werden oft die Kinder des Viertels in die „hohe Kunst“ des Grillens eingeführt. Eine generationsübergreifende Tradition, die in fast allen Banlieues in Frankreich gelebt wird.

Eine vergessene Generation

Neben unzähligen schönen Momenten und Episoden beschreibt Jean-Michel Landon in „La vie des blocs“ auch die große Bandbreite an sozialen Problemen, die im Schatten der Wohntürme das Lebensumfeld der Bewohnerinnen und Bewohner prägen. Ungefiltert dokumentieren seine Fotografien die Tristesse, Perspektivlosigkeit einer von Politik und Gesellschaft scheinbar vergessenen Generation. Die Schulabbrecherquote ist hoch, die Arbeitslosenquote unter den jungen Erwachsenen beträgt 2023 in L’Echat über vierundzwanzig Prozent, Drogenhandel und Razzien gehören zum Alltag.

So genannte „Choufs“, sitzen auf einfachen Klappstühlen auf den Gehwegen und in den Hauseingängen. Sie haben die Aufgabe, Drogenkunden an den richtigen Dealer zu vermitteln, gleichzeitig warnen sie die Dealer vor der Polizei. Ein „Chouf“ wird von dem „Manager“ des jeweiligen Revieres bezahlt und erhält zwischen 50 und 100 Euro pro Tag. Sie sind oft minderjährig und jünger als 16 Jahre, da die Gefahr einer Strafverfolgung in diesem Alter minimal ist. Der Schwarzhandel blüht. Die Dealer kaufen ihre Mobiltelefone und SIM-Karten auf dem Schwarzmarkt, ohne dass man sie nach ihrer Identität fragt.  Auf diese Weise können sie weitestgehend vermeiden, von der Polizei abgehört und geortet zu werden.

Die oft als harmlos angesehene Partydroge Lachgas ist weit verbreitet. Reines Lachgas ist in Einweg-Patronen für Sahnespender enthalten und frei verkäuflich. Die Jugendlichen atmen das Gas entweder direkt aus der Patrone oder aus mit Lachgas gefüllten Ballons ein. Der Rausch ist kurz und heftig: neben euphorischen Gefühlen verstärken sich Geräusche und Sinneseindrücke. Doch der kurze Kick kann schwerwiegende Folgen haben. Sauerstoffmangel kann das Nervensystem nachhaltig schädigen, Lähmungen und körperlichen Behinderungen können die Folge sein. Das Risiko steigt, wenn das Lachgas zusammen mit Alkohol oder anderen Drogen konsumiert wird.

Die vielen Gesichter der Banlieues

„La vie des blocs“ –  das Leben in den Wohnblöcken der Pariser Vorstädte ist komplex, eine mannigfaltige Welt, deren Realität zwischen Tristesse, Perspektivlosigkeit und Wut auf der einen und Lebensfreude, Solidarität und Unbedarftheit auf der anderen Seite oszilliert. Um dieser disparaten Lebenswelt gerecht zu werden und ihr ein authentisches Gesicht zu geben bedarf es weit mehr als einer Kamera. Vielmehr braucht es dafür das nötige Wissen um die wahren Begebenheiten, die aufrichtige Empathie für die Menschen vor der Kamera und den unbändigen Willen diese auf genau das zu richten, was von so vielen zu gerne vergessen oder erst gar nicht gesehen wird. In seinem Erstlingswerk „La vie des blocs“ gelingt dies dem Fotografen Jean-Michel Landon für seine Heimatgemeinde Créteil in unvergleichlicher und berührender Weise.

Stimmen aus dem Gästebuch

  • „Eine großartige Ausstellung mit Bildern, die einem unter die Haut gehen.“
  • „Starke, bewegende Fotografien! Danke für die Einblicke in eine Welt, die vielen verschlossen ist.“
  • „Zeitlos, inspirierend, regt zum Nachdenken an. Sehr cool!“
  • „Sehr berührende Fotos, die aber auch immer wieder zum Lachen bringen, trotz aller Tristesse und Hoffnungslosigkeit.“
  • „Die Seele der Vergessenen ans Licht geholt, parfait!“
  • „Schön, aber eigentlich zum Heulen.“
  • „Erschütternd und doch echtes Leben.“
  • „Beeindruckende Bilder von Frankreich, das an vielen Orten existiert, aber vor dem viele Menschen ihre Augen verschließen (wollen).“
  • „Ein Einblick in eine fremde Welt geprägt von einer tiefen Menschlichkeit von Fotografierendem und den Protagonisten. Bewegend!“

Neugierig geworden?

Die Sonderausstellung „La vie des blocs“ ist noch bis 30. Juni 2024 in unserer Galerie ZEPHYR zu sehen.
Mehr zur Ausstellung

Ein Video gewährt einen Einblick in die Ausstellung „La vie des blocs“ –  zu Wort kommen der Fotograf Jean-Michel Landon sowie die ZEPHYR-Leiterin und Kuratorin Stephanie Herrmann.