Puppen aus Mannheim – Die Schildkrötfabrik
Von Mannheim aus eroberten sie Kinderherzen weltweit. Bärbel, Erika, Inge oder Hans hießen die beliebten Puppen mit der Schildkröte im Nacken. Sie zählten einst zu den Verkaufsschlagern der Rheinischen Gummi- und Celluloid-Fabrik in Mannheim-Neckarau – besser bekannt als Schildkrötfabrik. Anlässlich der Eröffnung der neuen Sonderausstellung „Kinderträume“ gehen wir auf Spurensuche.
Zur Marke
Im späten 19. Jahrhundert hatte sich die Firma das Warenzeichen einer Schildkröte zugelegt, da dieses Reptil „das Sinnbild der Unverwüstlichkeit, Dauerhaftigkeit und Widerstandsfähigkeit“ sei. Außerdem erinnert die 1889 gesetzlich geschützte Marke an den Rohstoff Schildkrot bzw. Schildpatt, das aus Hornschichten der Panzer von Wasserschildkröten gewonnen und zu Haarnadeln, Kämmen und anderen Galanteriewaren verarbeitet wurde. Wie Tee und Kaffee so importierten die holländischen Handelskompagnien im 18. und 19. Jahrhundert Schildpatt nach Europa, das aus Westindien, von den Molukken oder von den Malabarinseln stammte.
Die Firmenmarke der „Rheinischen“ veränderte sich über die Jahrzehnte hinweg leicht, wobei die Einfügung des Reptils in eine Raute und die naturalistische Gestaltung der Vorderfüße die auffälligsten Veränderungen darstellten: So zeigt die Marke eine Landschildkröte. Nachdem Schildkrot im 19. Jahrhundert ein rarer und teurer Rohstoff geworden war, suchte man ein Substitut: Mit der Erfindung des Celluloids schien ein billiger und haltbarer Ersatzstoff gefunden.
Zur Firma
In der Zeit der Gründerjahre war in Mannheim-Neckarau am 3. April 1873 durch Julius Friedrich Bensinger und Victor und Alfred Lenel die Rheinische Hartgummi-Waaren-Fabrik gegründet worden. Dieses Werk produzierte zunächst auf der Basis von Kautschuk Frisierwaren und Schmuckartikel. Dann stieß Fritz Jander zu dem Unternehmen. Dank ihm konnte die „Rheinische“ nach einigen Versuchen als erste europäische Firma Celluloid herstellen, was bislang aus Amerika importiert werden musste. Dies hatte eine Änderung des Firmennamens im September 1885 zur Folge, der fortan „Rheinische Gummi und Celluloid-Fabrik Mannheim-Neckarau“ lautete. Mittels des Pressverfahrens wurden abwaschbare Manschetten, Haarspangen oder -kämme aus dem neuen Rohmaterial produziert.
Als Friedrich Bensinger 1887 in Paris den Erfinder der Celluloid-Spielbälle kennengelernt hatte, erwarb er sich von ihm die Lizenz, Hohlkörperhälften zu pressen und zusammenzukleben. In Mannheim wurde sowohl die Herstellung des Rohmaterials verbessert als auch die Technik der Ausformung. So war die Mannheimer Fabrik bereits um 1900 führend auf dem Markt, und konnte im frühen 20. Jahrhundert für sich reklamieren, der weltgrößte Celluloidproduzent und -verarbeitungsbetrieb zu sein.
Zu den Puppen
Die Herstellung von Waren aus Celluloid wurde in Mannheim dahingehend weiterentwickelt, dass mit Hilfe von Dampf, der in einem speziellen Verfahren in Hohlkörper eingebracht wurde – das sogenannte Press-Blas-Verfahren –, die Teile besser zusammengefügt werden konnten. Das war die Geburtsstunde der Puppen. Sie entstanden zunächst um 1895 als Steifbein-Badepuppen. Wenig später folgten die Brustblattköpfe, die Puppenkörpern aus Stoff oder anderen Materialien aufgesetzt wurden. Es wurden auch Masken für weiche Puppen gefertigt.
Zum Erfolg der Firma trug zudem bei, dass berühmte Künstler als Modelleure eingesetzt wurden, so Hans Haueisen, Franz Döbrich oder Ottomar Gurth. Sie sollten zeitgemäße Schönheitsideale umsetzen. Manche ihrer Kopfmodelle blieben über 50 Jahre Vorlage. Nur beim Haar aktualisierte man entsprechend der Zeit.
Zu den berühmtesten Kreationen gehörten die typischen „Schildkröt-Bebis“. Sie waren ab 1910 im Einklang mit dem Natürlichkeitsideal der Zeit und als Reaktion auf die Charakterpuppen entstanden. Die Bebis sollten möglichst lebensecht liegen, sich hochstützen oder sitzen können. Dies wurde dadurch erzielt, dass z.B. Strampelchen Kopf, Arme und Beine in jede beliebige Stellung bringen konnte. Es bekam den typischen Sitzbebikörper mit abgeflachtem Po, gewinkelten Beinen und der typischen Fingerhaltung.
Ab 1930 wurde ein etwa dickeres Bebi entwickelt, das den Daumen in den Mund stecken konnte. Alle Bebis gab es auch als Stehpuppen. Dies passte zu den damaligen Erziehungsidealen: die kleinen Puppenmütter sollten auf ihre spätere Aufgabe der Kindererziehung vorbereitet werden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg nähten viele Mütter und weitere Verwandte die Puppenkleider selbst. Hilfe dabei boten Schnittmusterhefte, die von Aenne Burda eigens für Schildkröt-Puppen gedruckt wurden.
Celluloid erwies sich allerdings nicht als so haltbar, wie man zunächst gedacht hatte. Daher setzten sich ab etwa 1955 zunächst Tortulon, dann Vinyl für die Puppen durch. Das Werk in Mannheim schloss 1975 aus wirtschaftlichen Gründen seine Tore. Kurzzeitig fertigte ab 1983 die Firma Biemann in Kaufbeuren Schildkröt-Puppen. Nach der Wiedervereinigung zog die Firma nach Rauenstein in Thüringen. Dort können heute Bärbel, Erika, Inge und Hans als Sammlerstücke erworben oder im Museum der Firma bestaunt werden.
Neugierig geworden?
Besuchen Sie ab 10. September 2023 die Sonderausstellung Kinderträume. Hier erfahren Sie mehr über Spielen, Lernen und Leben um 1900.
Auch Schildkröt-Puppen dürfen in der Ausstellung natürlich nicht fehlen. Diese sind eine Leihgabe des Heimatmuseums Neckarau (Verein Geschichte Alt-Neckarau).
Die Ausstellung Belle Époque zeigt, wie Mannheim an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zur pulsierenden Großstadt wurde. Gemälde, Fotografien, Kunstgewerbe, Möbel, ein Benz-Mobil und Kostüme verbinden sich zum Kaleidoskop einer atemberaubenden Epoche.